Schmidt Liest Proust
habe ich jede Minute der Show genossen und versucht, mir das Gefühl für die kommenden Tage zu merken, in denen man wieder der an allem zweifelnde Einzelkämpfer sein würde, der sonnabends freiwillig vier Stunden Lateinkurs mitmachen muß, um seine Dämonen zu besänftigen. Wenn es die Römer nie gegeben hätte und ich ihre Sprache nicht lernen könnte, müßte ich Tabletten nehmen. Meine Klagen sind natürlich eigentlich ein Mißverständnis, ich vergesse immer, daß ich als Autor Glück nur im Schreiben erwarten darf.
Als wir vor sieben Jahren die »Chaussee« gegründet haben, war ich am Tag nach der Show immer niedergeschlagen. Lief es gut, hatte man Angst, es nie wieder so hinzukriegen, und wenn nur zwanzig Zuschauer gekommen und die Texte verpufft waren, grübelte man, wie es weitergehen sollte. Außerdem ging schon am Freitag die Suche nach den beiden Texten für die nächste Woche los. Heute bin ich traurig, wenn die Show vorbei ist und alle gehen. Für mich mit meiner leisen Stimme ist es eine große Erleichterung, durch ein Mikrophon zu sprechen, ich würde mir das auch im Alltag wünschen. Wenn ich auf dem Alexanderplatz die Republik ausrufen würde, bekäme es niemand mit. Manchmal wird man gefragt, ob es einem nicht peinlich sei, auf der Bühne zu stehen und vorzulesen, dabei ist das eine der wenigen Sachen im Leben, die mir nicht peinlich sind. Es ist viel leichter, als im Café die Kellnerin heranzuwinken. (In »Curb« stattet Larry David in seinem Restaurant jeden Tisch mit verschieden tönenden Klingeln aus, weil er auch immer vom Personal ignoriert wird.)
Im Winter wärmt einen auf der Bühne angenehm das Scheinwerferlicht, und man kommt ja sonst kaum noch unter Menschen. Es ist doch absurd, daß so viele Zuschauer kommen, um so wenigen zuzuhören, dabei bin ich überzeugt, daß die Zuschauer viel interessanter sind als wir. Die Aufhebung der Trennung von Bühne und Zuschauerraum ist ja eine Utopie des Theaters, nur daß man sich das als Zuschauer gar nicht wünscht. Wir haben schon einen Zuschauer ausgelost, der als Ehrengast auf der Bühne sitzen mußte, wir haben Zuschauer interviewt, es gibt das Offene Mikrophon, wir haben ein Gästebuch und gucken an der Kasse jedem in die Augen, um zu ergründen, was ihn zu uns treibt. Aber das wird mir irgendwann nicht mehr reichen, und dann werde ich die Zuschauer wirklich von zu Hause abholen, wie wir es manchmal im Scherz ankündigen.
Die Gefangene, S. 320–341
Die von Charlus für Madame Verdurin organisierte musikalische Soiree war ein Erfolg. Er übersieht aber, daß die von ihm geladenen Gäste, von denen er sich die Verbreitung von Morels Ruhm als Solist erhofft, die Hausherrin bei der Begrüßung und beim Abschied ignorieren und statt dessen ausschließlich ihm Komplimente machen. Und dann kritisiert er auch noch die » Eiskaffeetassen « der Verdurins. Wenn man die im Salon sehe, könne man » sich vergessen und meinen, man habe sich im Raum getäuscht, sie sehen wie Nachttöpfe aus «. Die Gäste, die er eingeladen hat, sind enttäuscht über die Räumlichkeiten und halten sich » in Ermangelung von etwas Besserem an die Bilder von Elstir, vor denen sie in mühsam unterdrücktes, prustendes Lachen ausbrachen «.
Charlus gesteht Madame Verdurin gerade noch » die Rolle eines Bindestrichs « bei der » Fusion zwischen Vinteuils Werk und seinem genialen Interpreten « zu. Berauscht von seiner gesellschaftlichen Position, provoziert er Madame Verdurin. Denn ihr geht es wie vielen, » sie fand für ihren Kummer einzig Trost darin, das Glück der anderen zu zerstören «. Schon ist sie entschlossen, Morel und Charlus auseinanderzubringen, indem sie den Geiger zwingt, zwischen Charlus und ihr zu wählen. Sie wird Morel warnen, daß Charlus’ Homosexualität für seine Reputation eine ernste Gefahr darstellt (sogar von Polizei ist die Rede). Sie hat eben Beziehungen nicht gern, die ihre Getreuen außerhalb des »kleinen Kreises« unterhalten. Sie hatte ja damals schon Brichot und seine Wäscherin auseinandergebracht, wofür dieser ihr auch noch dankbar ist, obwohl er in der Folge » beinahe völlig erblindet und, wie man behauptete, Morphinist geworden war «.
Aus persönlichen Gründen setzen mir die über das Buch verstreuten Schicksale Eifersüchtiger besonders zu. Zum Beispiel Monsieur d’Argencourt, » der sehr eifersüchtig, aber nicht auf der Höhe seiner Manneskraft war «. Er vernachlässigt seine Frau zugunsten einer Dame der
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