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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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entstanden in diesen Wochen, das spürt man einfach. Und jetzt komm, da draußen warten 70 000 Verrückte, die dich feiern wollen. Und das kann dir niemand mehr nehmen.«
    Die Gefangene, S. 278–299
    Madame Verdurin reagiert auf Musik nicht nur seelisch, sondern auch physisch. Hört sie Vinteuils Kompositionen, muß sie weinen. Böse Zungen behaupten allerdings, in Wirklichkeit schlafe sie, » was niemand übrigens genau entscheiden konnte, denn sie hörte solche Musik mit dem Kopf in den Händen an, und gewisse schnarrende Geräusche mochten immerhin als verhaltenes Schluchzen passieren «. Jedenfalls behauptet sie, weinen zu müssen und davon Schnupfen zu bekommen, wodurch ihre Schleimhaut anschwelle und sie tagelang inhalieren müsse. Die Lösung ist einfach: Jemand fettet ihr, bevor die Musik beginnt, die Nase ein.
    Wieder wird ganz beiläufig ein Tod vermeldet: Doktor Cottard hat es erwischt. Madame Verdurins Kommentar dazu: » Ja, aber was wollen Sie, er ist gestorben, wie alle Menschen sterben; er hat genug Leute umgebracht, daß es nun Zeit für ihn war, seine Streiche gegen sich selbst zu führen. « Und weiter im Text, ein Salon kennt keine Sentimentalitäten.
    Die eigenartige Stimmung auf einer Party, wenn man nicht richtig weiß, wie man das Verhalten der Gäste einordnen soll: » Es gibt keine große gesellschaftliche Veranstaltung, die nicht, wenn man einen Schnitt in gehöriger Tiefe hindurchlegt, sich jenen Soireen ähnlich erweist, zu denen Ärzte ihre Patienten einladen, die dann höchst vernünftige Reden führen, ausgezeichnete Manieren an den Tag legen und ihre Verrücktheit nur dadurch offenbaren, daß sie einem mit einem Blick auf einen vorübergehenden alten Herrn zuraunen: ›Das da ist Jeanne d’Arc‹. « Komischer Typ, der Napoleon für Jeanne d’Arc hält. Vielleicht sollte man auch noch einen Zug nehmen.
    Marcel ist hier, weil er wissen will, warum Albertine kommen wollte. Aber alle anderen wollen Morel spielen hören. Bevor es losgeht, schleudert Charlus den Gästen flammende Blicke zu, um ihnen » das religiöse Schweigen, jene Loslösung von jeder Beschäftigung mit weltlichen Dingen, nahezulegen, die hier am Platze sei «. Das funktioniert auch, man verstummt. Und die Hausherrin, Madame Verdurin, » saß ganz für sich allein wie eine Gottheit da, die ein musikalisches Weihefest durch ihre Anwesenheit konsekriert, eine Muse des Wagner-Kultes und der Migräne zugleich «.
    Unklares Inventar:
    – Rhinogomenol, Die Mauern von Gaëta.
    – Überaus viele Namen: Reinach, Hervieu, Madame Pipelet, Madame Gibou, Madame Joseph Prudhomme, Herr Alberti, Fürstin Jurbeletschew, Picquart, Labori, Zurlinden, Loubet, Oberst Jouaust, Potel und Chabot (Festbankettlieferanten), die Herzogin von Alençon, Prinz Albert von Belgien.
    Verlorene Praxis:
    – Unter Ludwig XIII. aus der Hefe des Volkes aufsteigen.
    – Nicht zur Nacht essen, um gelenkiger zu sein.
    – Als Opernhaushabitué Tänzerinnen subventionieren.
    – Als junges Mädchen die Atmosphäre mit Lächeln durchweben.
    – Seine weißbehandschuhten Hände zur Stirn emporführen und so zu einem Symbol ernster Sammlung werden.
    135 . Do, 7.12., Berlin
    Mit der Post kam die neue Ausgabe einer kleinen Literaturzeitschrift, mit einer längeren Erzählung von mir »Ein Leben ohne Phlox ist ein Irrtum«. Eigentlich hatte ich damit in diesem Jahr den Bachmannpreis gewinnen wollen, aber ich bin wieder nicht eingeladen worden und habe auch nicht erfahren, ob es am Text lag, an mir oder am fehlenden Glück. Im Moment wüßte ich nicht, wie ich noch einmal ein so großes Thema finde. Jeder Absatz sollte in größter Verdichtung eine der brutalen Pointen erzählen, aus denen das Leben besteht. Kindheit, Tod, Krieg, Natur, Schreiben, Zeit, Nostalgie. Ich glaube, ich habe noch nie so lange an einem Text gefeilt.
    Jetzt steht er in diesem Heft, das kaum jemand kennt, und wird die Welt nicht verändern. Das würde er natürlich auch nicht, wenn er jeden Abend in den Nachrichten verlesen würde. Das Traurige ist aber, daß man überhaupt nichts mehr empfindet, während ich mich bei meiner ersten Publikation in der Zeitschrift »Boxsport« (»Die Ballade vom Eisernen Mike, der seinem Gegner Heiligfeld ein Ohr abbiß«) vor Aufregung erst zu Hause getraut hatte, das Blatt aufzuschlagen. Die Realität des Literaturbetriebes hat den Büchern ihre Aura genommen. Ich muß wieder lernen, von meinen eigenen Büchern zu träumen.
    Die Gefangene, S. 299–320
    Eine

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