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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Gesellschaft und umgibt sich mit » ungefährlichen «, also homosexuellen Männern, die diese Geliebte zerstreuen, ohne ihm gefährlich zu werden. So wird aus dem einstigen Schwulenhasser ein Vorbild an Toleranz.
    Wie kommt es eigentlich, daß der bereits vor etlichen Seiten verstorbene Cottard wieder lebt? Ein General bricht auf, » nachdem er noch Cottard um einen Rat gebeten « hat. Nur ein Pedant könnte das hier erwähnen.
    Verlorene Praxis:
    – Wissen, daß jeder glücklich ist, einen Augenblick länger mit einem zu sprechen.
    – Seinen Fächer zerbrechen, wenn Wagner ausgepfiffen wird.
    137 . So, 10.12., Berlin
    Dann steht man auf einer Party direkt neben der Anlage und kämpft mit seiner Stimme gegen die eines lächerlichen Rocksängers an, um jemandem, den das gar nicht interessiert, zu erklären, worüber man schreibt. Immerhin ein Gespräch, eben hatte man sich noch zwischen den Grüppchen hin- und herbewegt, wie ein freies Elektron im Metallgitter, und sich gefragt, ob es nicht doch besser gewesen wäre, heute zu Hause zu bleiben. In solchen Momenten leidet man darunter, nichts aufschreiben zu können, weil das eigenartig wirken würde. Man müßte, wie die Russen ihren Machorka in der Hosentasche drehen, mit den Händen in den Taschen heimlich Notizen machen können.
    Meine frühere Flamme, wegen der ich hier bin, trifft viel später als angekündigt ein, sie hat jetzt ihr eigenes Sozialleben und man genießt nicht mehr das Privileg, auf Partys als erster begrüßt zu werden. Es kann auch passieren, daß sie mitten im Gespräch die Gläser füllen geht und verschwunden bleibt. Später findet man sie draußen im Garten mit einem Bekannten, und sie zeigt mit dem Finger auf das Glas, das sie für einen irgendwo abgestellt hat.
    Es war wie früher mit ihr, man konnte nichts sagen, ohne daß sie es wertete. Sie hält sich für den einzig wahren Smiths-Fan und rümpft bei Morrisseys Soloplatten die Nase. Sein Konzert, zu dem ich gehen will, interessiert sie nicht. Früher haben mich diese apodiktischen Urteile immer provoziert, jetzt erinnern sie mich daran, warum wir nicht mehr zusammen sind.
    Seit Dienstag hatte ich auf einen Anruf gewartet und es schon damit versucht, das Telefon stundenweise auszuschalten, um nicht ununterbrochen zu hoffen. Und so stehe ich, die Hand am Handy, in einem Mädchen-Kinderzimmer mit Pferdebüchern und bunten Mädchengegenständen und erörtere einer Verflossenen endlos meinen traurigen Zustand (und das noch ohne den geschwollenen Knöchel zu erwähnen), worauf es heißt, ich würde wie immer nur von mir reden.
    Dann stehe ich auf der Rykestraße, enttäuscht, weil es mal wieder nichts gebracht hat, sich unter Leute zu begeben. Ich erinnere mich, Ende der Achtziger zum ersten Mal hier gestanden zu haben, eine meiner von mir heimlich Verehrten feierte in der Wohnung ihrer großen Schwester Geburtstag. Die Gegend war für mich ein einziges Versprechen, ich wohnte ja im Neubauviertel und sah zum ersten Mal eine Wohnung im Prenzlauer Berg. Wir hatten PVC-Linoleum mit Holzmaserung, hier waren die Dielen weiß gestrichen. (Es gab ja nur zwei Dielenfarben in der DDR: Ochsenblut und das seltenere Weiß.) Daß ein Nachbar nachts an der Tür des Mädchens zu scharren pflegte, konnte mich nicht abschrecken, es war klar, daß ich hier wohnen wollte, schon weil nicht alle Wände rechtwinklig zueinander standen.
    Ich trank roten und weißen Sekt durcheinander. Mir wurde schlecht, ich ging an die Luft, weil man immer nachts rausgehen wollte, auf Dächer steigen oder einsam an ausgesuchten Punkten der Stadt stehen, um höhere Einsichten zu empfangen. Ich setzte mich in den Torbogen der Synagoge, die einen ja immer anzog, weil die jüdische Gemeinde wie ein Biotop in der DDR wirkte, man wäre gerne Jude gewesen, um auch so interessante Gemeindemitglieder zu haben. Von der Kälte wachte ich auf und ging ohne neue Klarheiten zurück in die Wohnung. Die Zukunft war eine einzige Drohung. Am nächsten Morgen, es war Sonntag und die anderen schliefen noch, mußte ich um sechs aufstehen, weil meine Schule irgendwo südlich von Berlin eines dieser vormilitärischen Manöver durchführte. Die Lehrerin registrierte mißbilligend, daß ich die grüne ZV-Uniform, die aussah wie Gefängniskleidung, erst vor Ort anzog und nicht schon in der S-Bahn getragen hatte. Leider waren die Gewehre nur aus Holz.
    Die von ferne Angebetete soll übrigens gar nicht so uninteressiert gewesen sein, habe ich später

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