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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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geht hier um eine Niederlage unseres Helden, den aber neben seiner eifersüchtigen Raserei auch immer wieder lichte Augenblicke des Verstandes überwältigen: » Ob man nun gesellschaftliche Vorteile oder weise Voraussicht ins Treffen führen kann, Tatsache ist, daß man keine Macht über das Leben eines anderen Wesens hat. « Albertine hat eben für sich in Anspruch genommen, genauso zu leben wie die Männer. Zur Strafe mußte sie, da ist der Roman noch ganz neunzehntes Jahrhundert, wie Effi Briest und Anna Karenina sterben, zu allem Überfluß auch noch bei einem Reitunfall, diese böse Amazone, bevor sie, wie in der letzten Depesche angekündigt, zum Helden zurückkehren konnte, reuig versteht sich. » Hätte sie wissen können, was geschehen würde, so wäre sie bei mir geblieben. Aber das würde heißen, daß sie, nachdem sie erst einmal ihren Tod erlebt hätte, doch lieber bei mir und lebendig gewesen wäre. « Ja klar. Marcel hätte bald, siehe oben, das Interesse an ihr verloren.
    Natürlich kreisen seine Gedanken immer wieder um die lesbische Liebe, der Albertine sich, so die Aussage der Badefrau, regelmäßig und mit alt und jung hingab. Das wurmt Marcel mächtig, er gibt es aber nicht zu. » Warum hatte sie mir nicht gesagt: Ich habe solche Neigungen? Ich hätte nachgegeben, ich hätte ihr erlaubt, sie zu befriedigen, und würde sie noch in diesem Augenblick küssen. « Albertine war schon ein kluges Mädchen, ihre Klappe zu halten. Der Held versucht, jede seiner und ihrer Regungen im nachhinein zu analysieren und mit philosophischem Zuckerguß zu überziehen. » Vielleicht hätte sie, wenn sie es gewußt hätte, mit Rührung im Herzen gesehen, daß ihr Freund sie nicht vergaß, jetzt, da ihr Leben beendet war, und wäre vielleicht für Dinge empfänglich gewesen, die sie früher kaltgelassen hätten. «
    Statt dessen muß der Held, wie ungerecht, sich Gedanken machen, ja er fühlt sich eigentlich von Albertine bestraft. Wenn er sie nämlich nicht mehr geliebt hätte, wäre sie für ihn schon gestorben, bevor sie tot war. So ist er gezwungen, ihrem Doppelleben nachzuschnüffeln. Liebeserlebnisse in einem Duschraum. Welche Verderbtheit. Unser Held wälzt sich dann noch ein paar Seiten in Eifersucht und Sexprotzereien. Siegerin nach Punkten bleibt Albertine, da kann sie tot sein, wie sie will.
    Aimé, der dienstbare Geist, » der über gewisse Bildungsansätze verfügte «, wird auch noch entlarvt, indem Marcel seine Rechtschreibschwäche in einer Fußnote groß und breit auswälzt.
    Ich denke, ich lese erst einmal »Moby Dick« zu Ende und dann den neuen Pynchon.
    Unklares Inventar:
    – Präzipitat.
    Verlorene Praxis:
    – Letzte Depeschen schicken.
    Selbständig lebensfähige Sentenz (schenke ich Dir, Jochen, zu Weihnachten, als Sinnspruch in Sütterlin, eingerahmt und unter Glas):
    – » Man verlangt um so mehr nach einer Person, wenn sie dicht daran ist, sich uns hinzugeben; die Hoffnung nimmt den Besitz vorweg; die Sehnsucht wirkt als eine Verstärkung des Verlangens. «
    151 . Mo, 25.12., Berlin
    Zur Sedierung morgens ein bißchen Latein. Bei römischen Triumphzügen stand auf dem Wagen des gefeierten Feldherrn ein Sklave, der ihm von hinten zurief: »Respice post te, hominem te esse memento!« (»Schau dich um und denke daran, daß du ein Mensch bist!« – mit ACI und Imperativ II, nicht schlecht für einen Sklaven.) Das wäre eigentlich mein Traumjob, hinter gefeierten Persönlichkeiten aus dem Kultur- und Geistesleben herzugehen und ihnen diesen Satz ins Ohr zu flüstern. Heiner Müller hat das Prinzip Rom verachtet, aber immerhin hatten die Römer solche ungewöhnlichen Institutionen (abgesehen von ihrem sympathischen Sinn für Bequemlichkeit).
    Dann im Internet meine alte »Kleine Meise«-Aufnahme gehört und der verführerischen Eigenrührung gefrönt. Als sie mich noch nicht persönlich kannte, hat sie das immer gehört, wenn es ihr schlecht ging. Ich hab einfach den Fehler gemacht, nicht vier Jahre alt zu bleiben.
    In der Gethsemane-Kirche, wo ich seit Oktober ’89 nicht mehr war. Der Organist machte wieder Tempo, sie mögen es nicht, wenn man in den Klängen schwelgt. Wahrscheinlich führt so ein Organist einen lebenslangen einsamen Kampf gegen die schleppend singende Gemeinde. Immerhin hatten sie den Mut, auf »Stille Nacht« zu verzichten, dieses »Katzeklo« der Weihnachtszeit. Unangenehm, daß dauernd von Liebe die Rede war, »geliebte Menschen können nicht anders als glücklich sein,

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