Schmidt Liest Proust
gewesen, von den durch meine Steuern mitfinanzierten Kulturinstitutionen weitestgehend ignoriert zu werden. Ich konnte immer sagen, mich hat noch nie ein Goethe-Institut eingeladen (außer einmal) und kein Literaturhaus (außer einmal). Aber jetzt ist es passiert, ich soll im Mai nach Sofia. Es war Glück, eine bulgarische Mitarbeiterin war auf der Suche nach jungen Autoren in Berlin unterwegs und über Umwege zur »Chaussee« gekommen. Ein Kollege wollte sie an der Kasse gerade abwimmeln, weil er ihr Englisch nicht verstand, zufällig bekam ich das mit und konnte ihr deutlich machen, wie tief ich mich Bulgarien verbunden fühle. Es war etwas peinlich, so offensichtlich Eigenwerbung zu betreiben, aber ich sagte mir, daß ich zumindest keinen deutschen Autor kenne, dem eine Einladung dorthin mehr geben würde. Und jetzt habe ich Angst vor meinen Gefühlen bei der Wiederbegegnung. Vielleicht lehrt mich das, meine Mutter zu verstehen, die sich standhaft weigert, mit mir ihre ostpreußische Heimatstadt zu besuchen.
Bei meinen Reisen nach Bulgarien hatte ich immer den Traum, einmal offiziell wiederzukommen, sozusagen im Triumphzug. Ich ging ja immer zum Aushang des Goethe-Instituts in Sofia und sah mir an, welche deutschen Nachwuchsautoren sie wieder eingeladen hatten. Ich war stolz, auf eigene Faust hier zu sein, denn als Eingeladener macht man keine Erfahrungen. Aber trotzdem hat es mich gewurmt.
Meine letzte Reise liegt fast vier Jahre zurück, vorher war ich ein paar Jahre lang immer mindestens einen Monat dort gewesen und bin mit Steffka 12 000 Kilometer in ihrem Auto durchs Land gefahren (eine Freundin, die ein Auto hat, aber nicht fahren kann, erwies sich als ideal). Es war keine schöne Situation für sie, weil sie nicht wußte, was ich wollte, ich wußte es ja auch nicht, nur daß ich an Bulgarien hing und in ihr einen einzigartigen Schlüssel zu diesem ungehobenen Schatz besaß. In Biographien anderer Autoren registrierte ich, wenn jemand zum Beispiel eine Rumänin geheiratet hatte und in Bukarest lebte, aber ich konnte mich nicht entscheiden, ich wollte auch noch in so viele andere Länder. Trotzdem paukte ich Bulgarisch, bis ich die Telefongespräche verstand, die Steffka täglich mit ihrer Mutter führte, und in denen sie sich auf ihre rührend-trotzige Art über mich beschwerte. Vor meiner ersten Fahrt hatte ich die Buchläden in Berlin verzweifelt nach einem Bulgarisch-Wörterbuch abgesucht, es gab damals nichts dergleichen zu kaufen, nur in einem Antiquariat ein sehr altes aus der DDR. Der Besitzer erinnerte sich bei der Gelegenheit, vor langen Jahren einmal eine bulgarische Freundin gehabt zu haben. Mir kam das wie ein Menetekel vor: Eines Tages stehst du hier, und was du gerade erst im Begriff zu erleben bist, wird eine Ewigkeit her sein.
Inzwischen gucke ich routinemäßig in den Buchhandlungen, es gibt neue Bulgarien-Führer und sogar das große, zweibändige Wörterbuch, alles ist einfacher geworden, aber für mich kommt das zu spät. Außerdem will ich ja im Grunde nicht, daß sich andere für mein Lieblingsland begeistern und die Sprache lernen. Trotzdem bin ich empört, wenn es niemanden interessiert.
Ich freue mich über jeden bulgarischen Spieler in der Bundesliga und muß gleich ein bißchen für seinen Klub sein (wobei sich diese Sympathie mit anderen überschneidet, ich muß ja auch für die von ostdeutschen Trainern trainierten Mannschaften sein und für die, bei denen Bosnier mitspielen). Jedesmal kam ich völlig aufgekratzt zurück aus dieser Welt, die mich in eigenartiger Weise an meine Kindheit erinnerte, wobei man diese schon erlebt haben mußte, um sie in Bulgarien noch wiederzuentdecken, wo die Gegenwart ganz auf Coca Cola ausgerichtet ist. Aber man hatte dort noch nicht wie bei uns die Mittel, alle Spuren zu tilgen. Außerdem war da die Sprache, eine Schwester des Russischen, ähnlich und doch ganz anders, was wie bei Familienmitgliedern eine unendliche Faszination ausübt.
Wollte ich Steffka oder ihr Land? Was macht man, wenn man das Land weiterliebt, aber mit der Frau nicht auskommt? Ich hatte auch immer Angst, in Wirklichkeit dieser peinlichen Piroschka-Romantik anzuhängen.
Die lange Trennung hatte mir nie etwas ausgemacht, ich muß sie sehr gequält haben, weil ich fast nie anrief. Und wenn, dann erzählte ich ihr, daß ich in einem Reiseführer aus den Fünfzigern gelesen hatte, man dürfe sich bei ihnen auf der Straße nicht küssen, was sie aufregte, weil ich die
Weitere Kostenlose Bücher