Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
Gehirnverletzungen. Er kommt ins litauische Gefängnis und wird zu acht Jahren verurteilt. Der Sänger der wichtigsten französischen Band der Neunziger, die gerade den wichtigsten französischen Musikpreis gewonnen hatte und eine Art moralische Instanz war. Und nebenbei ein echter Künstler, wenn man hört, wie er die zweite Strophe von Leo Ferrés »Des armes« singt, die Stimme wie eine Rasierklinge: » Des armes bleues comme la terre des qu’il faut se garder au fond de l’âme dans les yeux, dans le coeur, dans les bras d’une femme qu’on garde au fond de soi comme on garde un mystère. »
    Eine französische Bekannte sagte damals, es sei eben eine große Liebe gewesen. Ihr schien das als Erklärung völlig ausreichend. Wie kann man im Gefängnis überleben, nachdem man als Idol einer Generation im Affekt seine Geliebte erschlagen hat? Und steckt solch ein Ende potentiell in jeder Liebe? Wahrscheinlich ist die Zahl von Eifersuchtsmorden überraschend hoch und man merkt nur auf, wenn es mal einen Prominenten betrifft.
    Die Entflohene, S. 149–170
    Die Phase der unwillkürlichen Assoziationen, die ihn an Albertine erinnern, hält immer noch an. Ein Name reicht und ruft » bei mir schmerzliche Reaktionen hervor, die ich nicht mehr für möglich gehalten hatte, so wie bei Sterbenden, wenn schon das Hirn nicht mehr denkt, dennoch ein Glied noch zusammenzuckt, in das man die Nadel senkt «. Manchmal reicht eine zwei Substantiven gemeinsame Silbe, » wie ein Elektriker sich mit dem geringfügigsten Körper begnügt, wofern er ein ›guter Leiter‹ ist – um den Kontakt zwischen Albertine und meinem Herzen herzustellen «.
    Dann die Träume. In einem plaudert er mit Albertine, während seine Großmutter im Hintergrund des Zimmers auf und ab geht. » Ein Teil ihres Kinns war zerfallen wie verwitterter Marmor «. (In seiner Vorstellung ist er ja am Tod beider schuld. An Albertines, weil sie ohne ihn kein Pferd gehabt hätte.) Er schlägt einen der früher so geschätzten Romane von Bergotte auf, und » meine Augen netzten sich mit Tränen, als endlich das Glück der Verlobten gesichert war «. Oder wenn er auf einer Karte Frankreichs die Touraine sieht, Albertines letzten Aufenthaltsort. Der Gipfel dieser Gefühle wäre, wieder in Balbec im selben Bett zu liegen. Um sich abzulenken, schlägt er die Zeitung auf, aber der Schmerz ist erfinderisch. Vom » Karfreitag « kommt das Gedächtnis auf Golgatha, von dort auf » Calvus mons « und zu » Chaumont «, wohin Albertine mit Andrée gefahren war, ohne daß Marcel etwas davon gewußt hatte: » Von einem gewissen Alter an sind unsere Erinnerungen derart durcheinandergewirrt, daß die Sache, die man im Sinne hat, oder das Buch, das man liest, ganz dahinter verschwindet. Überallhin hat man etwas von sich ausgestreut, alles ist ergiebig, alles birgt Gefahren in sich, und ebenso kostbare Entdeckungen wie in Pascals Pensées kann man in einer Seifenreklame machen. « Es gibt also keinen würdigeren Gegenstand für einen Künstler, es kommt allein auf seinen inneren Reichtum an.
    Andrée ist zu Besuch und gesteht freimütig ihre Vorliebe für Frauen ein. Er will sie nach Albertine ausfragen, doch dabei » verengte sich immer mehr der Raum, den ich der Unschuld Albertines noch allenfalls zugestehen konnte «, und so gibt er bei seinen Nachfragen » das erstarrte Bild eines Tieres ab, um das ein Vogel mit lähmendem Blick langsam immer engere Kreise zieht, ohne es eilig zu haben, weil er ja sicher ist, wann immer er will, auf sein Opfer niederstoßen zu können «.
    Um seine Neugier zu befriedigen, möchte er bei Liebkosungen zwischen ihr und Albertines Freundinnen zusehen dürfen, aber jetzt lügt Andrée (jedenfalls ist er davon überzeugt) und behauptet, Albertine hätte ihre Neigungen nicht geteilt.
    Wegen Albertine bleibt er in der Folge auf brünette Mädchen aus dem Kleinbürgertum fixiert. Einmal tut er in einer Gegend der Stadt, in die sich Albertine häufig begeben hatte, zwei kleine Wäscherinnen auf. Die beiden liebkosen sich, und er hört zum ersten Mal einen urtümlichen Laut, » der einer Empfindung Ausdruck gibt, die wir selbst nicht kennen «. Und solch einen Laut hat der Unglückliche bei Albertine nie gehört?
    Verlorene Praxis:
    – Einen Zipfel des schweren Schleiers jener verdummenden Gewohnheit aufheben, » die uns unser ganzes Leben hindurch fast das gesamte Universum verbirgt «.
    153 . Mi, 27.12., Berlin
    Ich bin immer beleidigt, aber auch stolz

Weitere Kostenlose Bücher