Schmidt Liest Proust
der Umkleidekabine aufgehalten hat, und nach den Worten der Zeugin hatten sie » dort nicht den Rosenkranz gebetet «. Jetzt ist Aimé in Marcels Auftrag in der Touraine, an Albertines letztem Aufenthaltsort, und erfährt von einer kleinen Wäscherin, Albertine habe ihr immer » auf eine ganz besondere Art den Arm gedrückt «. Sie habe sich nach dem Baden mit den Wäscherinnen am Ufer im Gras getrocknet, sie » streichelten, kitzelten sich gegenseitig und spielten miteinander «. Die Wäscherin bietet Aimé an, mit ihm dasselbe wie mit Mademoiselle Albertine zu machen, und dieser gewissenhafte Ermittler schreckt auch davor nicht zurück, er bringt jedes Opfer, um seinem Auftraggeber die gewünschten Informationen zu liefern. So bekommt er das Mal auf dem Arm der kleinen Wäscherin zu sehen, die Stelle, wo Albertine sie gebissen hat, und er kommt nach Prüfung ihrer Fähigkeiten zu dem Schluß: » [D]iese Kleine ist wirklich geschickt. «
Wenn Marcel Albertines Geist nun in einer spiritistischen Sitzung noch einmal sprechen könnte, würde er ihr sagen, er habe die Stelle gesehen, wo sie die Wäscherin gebissen hat. Was für eine Verschwendung von Sendezeit! Man spricht eine Verstorbene noch einmal und macht ihr Vorhaltungen, so sind wir Männer.
Er geht jetzt so weit, sich zu fragen, » ob das Wiedererstehen meines Schmerzes nicht auf rein pathologischen Ursachen beruhe und ob nicht das, was ich für das erneute Aufleben einer Erinnerung und die letzte Periode einer Liebe hielte, vielmehr der Beginn eines Herzleidens wäre «.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » Man kann von einem Leiden nicht genesen, wenn man es nicht in ganzer Stärke durchlebt. «
152 . Di, 26.12., Berlin
Die Eltern besuchen, seit Jahren mußte man dafür den ICE nehmen, für die zwei Wochen, die sie hier sind, reicht ein Fahrrad. Wenn ich heute noch bei ihnen wohnen würde, würde ich wahrscheinlich nie ausziehen, alle Vorteile einer eigenen Wohnung haben sich verflüchtigt, es bleibt nur die hohe Miete und die abendliche Einsamkeit. Der Wechsel zwischen Gesellschaft und Alleinsein fällt schwer, vor allem, wenn man sich keinen Fernseher gestattet, der mit einem redet. Nein, in meiner Welt dürfen Wunden nicht heilen.
Wir haben unser altes Haus im Friedrichshain besucht, gegenüber vom Sargkonsum, der so hieß, weil nebenan ein Bestattungsinstitut war. Der kleine Friedhof hinter der Kirche ist jetzt ein Kinderspielplatz, die Toten aus der Nachkriegszeit hatten nur dreißig Jahre Liegerecht. Es war anstrengend mit den Menschen, und ich wollte abends allein sein, aber sofort erscheint wieder das Gespenst einer Junggesellenexistenz, und man fühlt sich wie der Mann der Menge von Poe.
Nach Prag fahren und sich drei Wochen in Tschechisch vertiefen? Oder gleich Japan?
Aber ich muß erst diesen Text über Irland schreiben.
Vielleicht würde ich mich sonst auch gar nicht so nach Gesellschaft sehnen, es sind doch immer unerledigte Aufgaben, die einen anfällig machen. Nach einer alten Theorie von mir verliebt man sich ja auch nur, weil man sich in einer professionellen Krise befindet, die das emotionale Immunsystem schwächt.
Musik ist im Gegensatz zu Fernsehen in meiner Welt erlaubt, obwohl das inkonsequent ist. Dafür spielt mein CD-Player nur noch jede dritte CD, alle anderen scheinen zu dick zu sein. Sehr laut »Des Visages des Figures« von Noir Désir gehört und nach Jahren eingesehen, daß Frankreich tatsächlich eine Rockgruppe von Rang hat. Dabei fiel mir ein, daß ich 2003, als ich in der Bretagne recherchieren war, überall in der Presse über Bertrand Cantat, den Sänger von Noir Désir, gelesen habe, der gerade seine Freundin umgebracht hatte. Mit dreiunddreißig ist er zum ersten Mal Vater geworden, sechs Jahre später, 2002, ist seine Frau wieder schwanger, als er nach einem Konzert Marie Trintignant vorgestellt wird, der damals vierzigjährigen Schauspielerin. Sie verlieben sich sofort, und kurz darauf, nach der Geburt seiner Tochter, verläßt er Frau und Kinder und geht zu Marie nach Paris, während diese ebenfalls ihren Ehemann und vier zum Teil noch kleine Kinder verläßt. Ein Jahr später sind sie in Vilnius, wo sie mit ihrer Mutter dreht. Abends sind sie wohl beide ziemlich betrunken und bekifft, sie erhält eine SMS von ihrem Noch-Ehemann, Cantat ist eifersüchtig, schlägt sie und bekommt erst am Morgen mit, wie schwer er sie verletzt hat. Sein Selbstmordversuch mißlingt, sie stirbt im Krankenhaus an ihren
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