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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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wertvolle Telefonzeit für so dummes Zeug verschwendete. Wir hatten bestimmt nicht den gleichen Humor.
    In der U-Bahn bilde ich mir immer ein, Bulgarinnen an ihrer Kleidung und am Haarschnitt zu erkennen. Im Kindergarten holt eine bulgarische Mutter manchmal gleichzeitig mit mir ihr Kind ab, und ich habe mich noch nie getraut, ihr zu sagen, daß ich die Sprache ganz gut kann. (»Shyness is nice, but shyness can stop you from doing all the things in life that you’d like to«, singt Morrissey.) Bei der Rückkehr von der letzten Reise habe ich im Bus meine Tasche vergessen, mit einer Scherzkakerlake, die aus einer Schachtel sprang (ich hätte den Dieb gerne dabei gesehen), und meiner ersten Digitalkamera. Ob es die Fotos noch irgendwo gibt? Sie müssen ja in meinem Gedächtnis sein, denn wenn ich sie wiedersehen würde, kämen sie mir bekannt vor, aber ich habe keine Möglichkeit, sie aus eigener Kraft hervorzulocken.
    Bis auf ausufernde Notizen und ein paar eher satirische Texte habe ich nie etwas zu dieser Passion geschrieben. Wie soll man ein Land in Worte fassen? Zumal, wenn man es kaum kennt?
    Ich weiß nicht, ob ich im Mai in Sofia die ganze Zeit leiden werde, weil ich meinem Gespenst von vor fünf Jahren begegne, oder ob ich einfach nur glücklich sein werde. Die Verantwortung, in Worte zu fassen, was mich dort fasziniert, hat mich immer belastet. Inzwischen hat das Land sich ja auch verändert, und meine ersten Eindrücke liegen fast zehn Jahre zurück, damals sah man noch viele Trabants und Wartburgs, die bei uns schon ausgestorben waren.
    Die Unsicherheit, ob Steffka wirklich die Richtige und es ein Fehler war, nicht zuzuschlagen und froh zu sein, jemanden wie sie zu bekommen. Aber sie war auch kein leichter Mensch, man vergißt die Konflikte und erinnert sich an die rührende Art, wie sie sich beim Spazieren unterhakte. Bei meiner letzten Ankunft hatte ich ihre leere Wohnung betreten (sie hatte mir ja ihren Schlüssel nach Berlin mitgegeben). Sie war übers Wochenende weggefahren. Alles war noch, wie ich es im Jahr davor erlebt hatte. Ihre Anwesenheit in den Dingen. Der Deckel der Wasserflasche, die sie morgens immer offengelassen hatte. Im Flur standen ihre bläulich-durchsichtigen Plastesandalen, die sie bei unserer letzten Fahrt zum Schwarzen Meer gekauft hatte, daneben ihre anderen Schuhe, die ich alle noch kannte. Der Anblick der Schuhe, nicht ganz parallel nebeneinanderstehend, weil sie sie eilig von den Füßen gestreift hatte. Dieses fremde Leben, in dem man hier stand und das man aufgegeben hatte.
    Wenn ich nicht irgendwann darüber schreibe, bin ich ein Verräter. » Wissend der ungeschriebene Text ist eine Wunde / Aus der das Blut geht das kein Nachruhm stillt « (Heiner Müller).
    Die Entflohene, S. 170–191
    Was eine neue Frau ihm alles bieten müßte! Nämlich genau dasselbe wie Albertine: einen Schwesternkuß am Abend, ein zu starkes Parfüm, sie müßte im Spiel ihre Wimpern mit seinen vermischen, ihm Musik von Vinteuil vorspielen und mit ihm über Elstir und die Memoiren Saint-Simons reden. Denn die Erinnerung ist ohnmächtig, » etwas anderes, sogar Besseres zu verlangen als das, was wir besessen haben «. Eine neue Frau weckt in ihm nur das Verlangen nach Albertine, oder nicht einmal nach ihr, sondern nach der eigenen Vergangenheit.
    Hoffnung kommt nur vom Vergessen, » das ein so gewaltiges Werkzeug der Anpassung an die Wirklichkeit ist «. (Vielleicht verliebe ich mich deshalb immer so heftig, weil ich mir von Anfang an jedes Detail merke, ja, mich sogar dazu zwinge. Gestern gingen wir durch die Samariterstraße, und meine Familie wußte meinen Erinnerungen kaum etwas hinzuzufügen. Und ich würde so gerne noch mehr wiederfinden von der Zeit vor dreißig Jahren, mich auf ein schattenhaftes Bild konzentrieren, bis ich neue Details erkenne.)
    Für ihn aber kommt eine bessere Zeit, in der alles, was mit Albertine in Beziehung stand, in ihm » eine Neugierde erzeugte, in der mehr Zauber als Leiden lag «. So ging es mir neulich auf dem Weg zum Morrissey-Konzert, weil ich mich vor ein paar Jahren schon darauf eingestellt hatte, daß die Straße mit den hohen Platanen (leider hieß sie doch nicht Bulgarische Straße, wie ich mir eingebildet hatte) eine besondere Bedeutung für mich bekommen würde, denn meine neue Freundin war dorthin gezogen, ich sah mich schon monatelang diesen Weg zu ihr nehmen und dort in einem fremden Berlin übernachten. Es blieb bei einer Nacht, die schon die spätere

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