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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Zurückweisung erahnen ließ, worauf ich, wie so oft im Leben, mit einem langen Brief reagierte, der natürlich nichts bewirkte. Der Schmerz ist vergessen oder an neuere Erlebnisse geheftet worden, aber die Gegend ist aufgewertet worden, weil sie für mich eine Geschichte hat, » denn fast alle meine Erinnerungen an sie befanden sich jetzt in jenem zweiten chemischen Zustand, in welchem sie dem Herzen keine ängstliche Bedrängung mehr, sondern ein Gefühl der Annehmlichkeit bereiten «.
    Drei Mädchen kommen ihm entgegen, eines davon wirft ihm einen Blick zu, der ihn entflammt. Nun hört er vom Hausmeister, es sei Mademoiselle d’Eporcheville, also das Mädchen, von dem Saint-Loup einmal erzählt hatte, sie suche Stundenhotels auf, und von dem er deshalb geträumt hatte. Sofort sieht er sie als halb die seine an, und der Tag bekommt für ihn eine rasende Dynamik. Er kann sich gar nicht an ihr Gesicht erinnern, ist aber bereits verliebt. Er telegraphiert Saint-Loup und erfährt, daß das bewußte Fräulein in Wirklichkeit »de l’Orgeville« heißt und zur Zeit in der Schweiz weilt.
    Etwas anderes, noch Erregenderes geschieht, denn die Mutter bringt den Figaro, in dem nun doch Marcels erste Publikation erschienen ist. Und schon ist die Zeitung ein » Wunderbrot «, denn ein einziger Text nährt Zehntausende. Um zu testen, ob der ahnungslose Leser den Artikel überhaupt sehen wird, entfaltet er scheinbar zerstreut die Zeitung und nimmt sogar eine Miene an, als wolle er nur eilig den politischen Teil überfliegen. Nein, kein Zweifel, der Artikel ist zu lang, um übersehen zu werden. Seine Gedanken werden also zu dieser Stunde ihren Glanz über soundso viele Leute ergießen, und wenn sie ihnen nicht folgen können, wird zumindest sein Name mehrfach genannt, was » ihre eigenen Gedanken mit einer Morgenröte tränken würde, die mich selbst mit mehr Kraft und triumphierender Freude erfüllte als jene in unzähliger Wiederholung allen einzelnen aufgehende, die zu gleicher Zeit rosenfingrig an jeglichem Fenster erschien «. Aus eigener Erfahrung muß ich dazu sagen: Morgen fault der Fisch drin.
    Verlorene Praxis:
    – Wegen eines Bedürfnisses nach kundigeren Liebkosungen wieder nach der anderen Frau verlangen.
    – Als junges Mädchen den schönen Tag mit seiner Blüte schmücken.
    – In der lebhaften Erregung des von Hoffnung glühenden Menschen eine Depesche aufgeben.
    – Als Mutter dem Sohn erfreuliche Post bringen, aber sein Zimmer verlassen, in dem Wissen, daß er sonst aus Eigenliebe das Vergnügen, das er empfindet, verbergen und dadurch weniger stark erleben würde.
    – Wie eine zähflüssige Substanz philosophische Ironie ausscheiden, mit der man die Wunde seiner verletzten Eigenliebe heilend überzieht.
    154 . Do, 28.12., Berlin
    Daß mir andere immer leid tun müssen, wenn ich von ihren Dramen lese, deren Hintergründe ich gar nicht kenne. Klausjürgen Wussow, dreißig Jahre älter als seine vierte Frau, wegen Altersschwäche im Altersheim lebend, darf sie zu Weihnachten besuchen, bekommt dort einen Kreislaufkollaps und wird ins Krankenhaus gefahren. Sie will nicht, daß er wieder ganz zu ihr zieht. Sofort bin ich froh, nicht Schauspieler geworden zu sein, ein Beruf wie ein Verhängnis. Oder Uschi Obermaier, die mit ihrem Freund in London ist und natürlich sofort von Mick Jagger aufgegabelt wird, der sie unter den Tisch küßt. Sie geht nur deshalb nicht mit, weil sie Angst hat, ihre Füße würden wegen der neuen Lederstiefel stinken. Weil Mick Jagger es nicht gewohnt ist, auf Widerstand zu stoßen, hakt er nach und bekommt sie natürlich doch. Gut, daß ich kein Rockmusiker bin, dann würde ich unter dem Fluch leiden, alle Frauen haben zu können, was es schwer machen würde, mit einer glücklich zu werden. Und gut, daß ich nicht der Freund eines Groupies bin, ohne die Macht, ihr die Lust auf Eroberungen zu nehmen, sie sammelt ja Prominente wie Hirschgeweihe. Wie gewinnt man die Seelenruhe, diesen Zug als Marotte zu sehen, schrullig wie jede andere Sammelleidenschaft? Ich muß momentan auch bei Bildern von Gogo-Tänzerinnen, Fernsehballett-Damen, Autoshow-Häschen, Ballerinen, Background-Girls, Katalog-Schönheiten an die armen Männer denken, die eine Frau lieben, deren Beruf darin besteht, begehrt zu werden (weshalb sie sie natürlich begehren). Nimm die Floristin oder das schüchterne Mädchen aus der Korrekturabteilung! Oder die Trockenbauerin! Laß andere ihre verzweifelten Exzesse feiern, sie

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