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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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denn Gott liebt uns«. Nachgedacht über Gottes Versuch, durch das Martyrium seines Sohns zum Menschen zu werden. Seitdem denken Künstler, ihr Leid sei von allgemeinem Interesse.
    Darf man aus einer evangelischen in eine katholische Kirche simsen?
    Mir fiel wieder ein, daß wir als Konfirmanden immer während des Gottesdienstes die schwenkbaren Jackenhaken von den Kirchenbänken abgeschraubt haben, um sie den Mädchen zu zeigen, die sich entsetzt die Hand vor den Mund hielten. Wir schraubten sie natürlich wieder an, wir waren ja Christen.
    Am Ausgang führen wir einen theologischen Disput, weil angesagt worden war, daß man nur den offiziellen Kollektesammlern Geld geben solle, es habe schon Betrüger gegeben. Aber wo ist der Unterschied? Als Christ müßte man doch auch einem Betrüger mit Freuden geben, gerade ihm!
    Wir feiern in einer Wohnung, deren Vormieterin ausgezogen ist, weil ihr Ex-Mann in derselben Straße wohnte und ihr das zu naheging. Vielleicht nochmal »Quartett« lesen: »Wir sollten unseren Part von Tigern spielen lassen.« Angeblich hat Müller das Stück in einer Villa bei Rom geschrieben, während eine Etage tiefer seine Frau mit einem Mann fremdging, der heftig in sie verliebt war. Vielleicht geht es mir noch zu gut für die wirklich großen Texte.
    Unter welchen Bedingungen dann wohl »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« entstanden ist? Die hübsche Hauptdarstellerin, schon als Kind bekam man demonstriert, daß die Deutschen höchstens die Könige stellen – wenn eine schöne Frau gebraucht wurde, kam die Schauspielerin aus Osteuropa. Sie sieht aus wie Emanuelle Béart und zieht die Oberlippe immer so arrogant hoch wie Billy Idol. Happy-End: Es war eigentlich nie anders im Leben, die Hübschen sortieren sich am Ende zu den Hübschen, die Drolligen zu den Drolligen. Bei diesem tschechischen Schauspieler, der in allen tschechischen Kinderfilmen dabei war, die Stimme von Kurt Böwe erkannt. Einmal habe ich ihn in einem Kinderfilm gesehen, der enttäuschenderweise gar nicht lustig war. Er spielte im Zweiten Weltkrieg, man wartete die ganze Zeit, daß sich dieser bedrückende Ernst verflüchtigte. Der Schauspieler war doch eigentlich eine Garantie für Spaß. Ein Paket Feldpost war in einen Fluß gefallen und die Kinder lasen sich lachend die Liebesgrüße der armen Soldaten vor, die ihren Adressaten nie erreichen würden. Wie unreif man als Kind ist, für niveauvolle Kindergeschichten hat man noch gar keinen Sinn.
    Weil das Sofa so eng war, neben meiner Mutter gesessen und über den Begriff »menschliche Wärme« nachgedacht, warum sie sich anders anfühlt als Ofenwärme. In der Altenpflege lernt man, daß alte Menschen Berührungen vermissen, die irgendwann unbemerkt aus ihrem Leben verschwinden. Ob ich mir eine Altenpflegerin engagieren sollte? Oder gibt es dafür ein Mindestalter?
    Die Entflohene, S. 129–149
    » Ich versuchte an nichts zu denken, ich griff nach einer Zeitung. Aber die Lektüre dieser Artikel, welche von Leuten verfaßt waren, die niemals echten Schmerz erlebt hatten, war mir unerträglich. « Ich lese immer gern üble Nachrede gegen Journalisten, aber ich neige inzwischen doch eher zu der Annahme, daß jeder Mensch echten Schmerz erlebt hat, selbst Rolf Eden, selbst Journalisten.
    » Im übrigen konnte ich gewöhnlich diese Zeitungen gar nicht einmal lesen, denn die einfache Bewegung des Entfaltens erinnerte mich zugleich daran, daß ich eine ähnliche oft vollzogen hatte, als Albertine noch lebte, und daß sie nicht mehr am Leben war; ich ließ das Blatt sinken und hatte nicht mehr die Kraft es vollends durchzusehen. « Ein andermal knotet er sich einen Seidenschal hinten statt vorne zusammen, was ihn an eine Spazierfahrt mit Albertine erinnert, auf der sie ihm das Tuch so zugeknotet hatte. Ich warte noch darauf, daß er sagt: »Es wurde mir immer schwerer, meine Lungen mit Luft zu füllen, denn das einfache Einatmen der Luft erinnerte mich zugleich daran, daß ich oft geatmet hatte, als Albertine noch lebte, und daß sie nicht mehr am Leben war; ich schloß den Mund, hatte nicht mehr die Kraft ihn zu öffnen und erstickte.«
    Aimé war ja nach Balbec entsandt worden, um Albertines mutmaßlichen Ausschweifungen in einer Badeanstalt nachzuforschen, über die Marcel Genaueres wissen will, seit ihm wieder eingefallen ist, daß Albertine bei der Erwähnung ihres Bademantels einmal errötet war. Aimé hatte herausgefunden, daß Albertine sich tatsächlich lange mit Frauen in

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