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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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haben sonst nichts und morgen sind sie verblüht.
    Sich fremde Eifersucht auch nur vorzustellen, reizt schon die eigene. Will man denn ein Wesen, das man so an sich gebunden hat, daß es nicht mehr wegläuft, selbst wenn es könnte? Infantile Verfügungsgewalt über die Mutter? Kann die Mutter das Kind vor solchen späteren Qualen bewahren, indem sie es frühzeitig an Verluste gewöhnt?
    Oder ich lese, daß Tschechows Brüder keinen starken Charakter hatten und halbkreative Alkoholiker geworden sind. Sofort fühle ich mich angesprochen, dabei ist es ein Essay von Thomas Mann, er kann gar nicht mich meinen. Wer zwingt einen heute eigentlich noch, sein friedliches Leben von überschaubarem öffentlichen Nutzen einem aus Depression und Selbstüberforderung geborenen, monströsen Werk zu opfern? Andererseits, wie monströs müssen die Leiden gewesen sein, die solche Werke notwendig gemacht haben?
    Sich aus Einsicht, daß man auf dem Gebiet von Liebe und Eifersucht mit Selbsterkenntnis nicht weiterkommt, den heimischen Orchideen zuwenden? Eine Jugendmannschaft trainieren? Seen in Mecklenburg fotografieren? General werden? Ein Weltraumprogramm begründen? Wenn es gegen die Eifersucht helfen würde, den Inhalt dieses Blogs als SMS zu verschicken, ich hätte schon zu tippen begonnen, wenigstens hätte ich dann eine Perspektive. Aber solange man etwas nur tut, weil man hofft, daß es hilft, geht es einem vielleicht noch nicht so schlecht, wie man behauptet.
    Die Entflohene, S. 191–212
    Nachdem er den Mut aufgebracht hat, seinen eigenen Text im Figaro zu lesen, möchte er gleich mehrere Exemplare der Zeitung kaufen lassen, um den Text in jedem noch einmal zu lesen. Er stellt sich die Leserinnen vor, in deren Schlafzimmer er gern eingedrungen wäre, die zwar seine Gedanken aus der Zeitung nicht verstehen können (wovon er natürlich ausgeht), aber denen so zumindest sein Name zugetragen wurde. Vielleicht kann er auf diesem Weg, wenn er sich einst aus der Gesellschaft zurückgezogen haben sollte, weiterhin die Aufmerksamkeit seiner Freunde auf sich ziehen.
    Er besucht Madame de Guermantes, um ihre Meinung über den Artikel zu hören und erfährt, daß das Fräulein, von dem er aufgrund einer Namensverwechslung einen Tag lang geträumt hatte, in Wirklichkeit noch anders geheißen hatte, nämlich Mademoiselle de Forcheville, und daß sich hinter dieser seine Freundin Gilberte verbirgt, die er seit Jahren nicht gesehen hat! Er hat ihr nachgestellt, ohne sie wiedererkannt zu haben! Was für ein deprimierendes Zeugnis für die Monotonie des Begehrens. Nach Swanns Tod war sie von Odettes neuem Mann adoptiert worden, der sie von ihrem jüdischen Namen erlösen wollte (der sich im übrigen mit englischem »w« ausspricht, wie wir jetzt erfahren). Und Madame de Guermantes hatte ihre Politik überdacht und Gilberte (die sie, wie auch Odette, ja immer abgelehnt hatte) doch empfangen.
    Verlorene Praxis:
    – In einem Akt von Nächstenliebe eine Prostituierte von der Straße auflesen und sie aus dem Elend der Gosse ziehen.
    – Mit ernster Miene antworten: » China macht mir Sorge. «
    – Jemandem die köstliche Sensation schenken, einem widerstehen zu können.
    – Verletzen, ohne grob zu sein.
    155 . Fr, 29.12., Berlin
    Man müßte auf Partys Handouts mit den wichtigsten Angaben über jeden verteilen, damit man schneller auf gemeinsame Bekannte kommt oder feststellen kann, ob man vielleicht sogar verwandt ist. Gestern hatte ich eine Begegnung dieser Art, es war wie bei Ionesco, wo sich zwei Fremde schrittweise klarmachen, daß sie aus derselben Stadt kommen, aus derselben Straße, aus demselben Haus und schließlich sogar, daß sie Mann und Frau sind. Bei einer Frau, die ich erst vor kurzem kennengelernt habe und über deren Leben ich nur aus ein paar kleinen Texten, die sie mir geschickt hat, etwas weiß, stellte sich durch Zufall heraus, daß ich sie in Wirklichkeit schon seit Jahren kenne, aber nicht persönlich, sondern nur als einen der Namen, die in dem Haus auf dem Dorf, in dem ich in meiner Kindheit und Jugend so oft wie möglich war, immer noch präsent waren, und wo sie als verloren galt, weil sie seit ihrer Flucht in den Westen nicht mehr zu Besuch kam. Aber ich hatte die Fotoalben studiert, die bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichten, und ich kannte jeden aus der Familie der Bewohner und aus dem großen Kreis von Freunden und Bekannten, die zu Besuch kamen oder hier die Ferien verbrachten. Deshalb kannte ich

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