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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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gerade nicht da ist. Wenn der, der Ahnung hat, da ist, spricht sie trotzdem zuerst den an, der keine Ahnung hat.
    Sie wäre gerne eine Ärztin, zu der sie auch selbst hingehen würde.
    Sie findet Trenchcoats weiblich und meint, daß es wegen Audrey Hepburn eigentlich »die Trenchcoat« heißen müßte.
    Sie würde für den Mann, den sie liebt, alles anziehen, sogar ihr Skelettkostüm, für das sich noch nie eine Gelegenheit gefunden hat.
    Die wiedergefundene Zeit, S. 327–347
    Mit den Jahren treten die Familienzüge in den Gesichtern der Menschen hervor, als hätten sie bis dahin unsichtbar in ihrem Inneren gekeimt. So bekommen manche mit fünfzig die gekrümmte Nase der Mutter, die Haut der Bankierstochter färbt sich kupfern, wie ein Widerschein des Goldes, das durch die Hände ihres Vaters gegangen ist, oder das Gesicht paßt sich dem Stadtviertel an, in dem man lebt. Wie würde man dann nach vierzig Jahren Prenzlauer Berg aussehen? Wie Wolfgang Thierse?
    Was ist die Gesellschaft ohne Gedächtnis? An das komplizierte Beziehungsgeflecht der Menschen erinnert sich nur noch Marcel. Die Identität der Guermantes ist nicht mehr immun gegen » tausend Fremdkörper «, » unverschämte Domestiken « dringen in die Salons ein und trinken dort Orangeade. Das Gefühl, daß ein Teil seiner Vergangenheit vollständig verloren ist, bekommt Marcel » durch die völlige Auflösung der Kenntnis jener tausend Gründe, jener tausend Nuancen […], um derentwillen dieser oder jener, der sich dort jetzt noch befand, ganz naturgegeben an seinem Platze schien, während ein anderer, der sich Ellbogen an Ellbogen mit ihm bewegte, wie eine höchst fragwürdige Neuerscheinung wirkte «.
    Täglich sterben weitere Kenner der Genealogie, die noch wissen, wie verachtet jemand war, der heute hoch geschätzt wird, und welche viel höhere Stellung als dieser der verstorbene Swann einst hatte. Marcel plaudert zwar mit einer jungen verständigen Frau, aber beide können nichts mit den Namen anfangen, die der andere anführt. Ihm wird durch » die Unmöglichkeit der Verständigung, die sich im Gespräch mit der jungen Frau aus der Tatsache ergab, daß wir in einer bestimmten Gesellschaft mit einem Abstand von fünfundzwanzig Jahren gelebt hatten, ein wirklicher Eindruck des Historischen zuteil «. Eine Erfahrung, die man durch die Wende in ungewöhnlich jungen Jahren gemacht hat, da man mit der Frau vielleicht nicht fünfundzwanzig Jahre auseinander gelebt hat, aber fünfundzwanzig Kilometer.
    Verstorben:
    – Prinzessin von Guermantes, Monsieur Verdurin.
    Verlorene Praxis:
    – Wie manche Dichter, die die Inspiration packt, seine Umgebung völlig vergessen, um in der Gesellschaft an seinem Werk weiterzuschaffen, und, während man » am Arm einer etwas erstaunt blickenden Dame zu Tisch « schreitet, » die Brauen runzeln und Grimassen schneiden «.
    – Eine Dame sein, zu der hinauf der steilste soziale Aufstieg führt.
    – Sein Gesicht durch den Zug von Mechanisierung, den ein Monokel darin einführt, allen den schwierigen Verpflichtungen entziehen, denen ein menschliches Antlitz sonst untersteht.
    – Einen Salon führen, dessen Besucher sich auf eine einzige Person beschränken.
    – Gegen jemanden, der sich einem gegenüber mit hartnäckiger Unverschämtheit beträgt, als eine Art von Repressalie eine beleidigende Haltung einnehmen.
    178 . Di, 23.1., Berlin
    Meine Eltern haben heute ihre Skatrunde zu Gast, mein Vater hat Graupensuppe gekocht und meine Mutter Nudelsalat gemacht. Ich wäre gerne dabei, aber seit ich mit achtzehn ausgezogen bin, habe ich im Grunde kein Zuhause mehr. Meine erste wirkliche Freundin hat noch im Haus ihrer Eltern gewohnt, ich bin damals praktisch dort mit eingezogen und habe mir nichts dabei gedacht, es war so angenehm, wieder eine Familie zu haben. Sie hatten viel mehr Platz, als wir jemals gehabt hatten, und es gab sogar einen Garten, wo man im Sommer mit dem Fußball jonglieren üben konnte. Und auf dem Gästeklo lag immer ein interessantes Buch. Tagelang bin ich nicht mehr zu mir gefahren, weil mich meine Wohnung bedrückte und ich den Ofen nicht warm bekam. Man dachte doch, man müßte seinem Alter angemessen exzessiv leben, aber andererseits mußte man diszipliniert sein, um im neuen System nicht unter die Räder zu kommen. Ich war natürlich auch viel zu faul für wirkliche Arbeit, Freizeit war doch ein Menschenrecht. Man hatte Ambitionen, aber das Farbband der alten Vorkriegsschreibmaschine vom Opa klemmte

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