Schmidt Liest Proust
seinem Garten tut «. Jedenfalls, wenn man einen Gärtner hat, der einem regelmäßig die Kompostgrube aushebt und die Wege mulcht.
37. Mi, 23.8., Alt-Lipchen
Beim Laufen auf dem Deich hat mich ein Gewitter überholt, hinter mir färbte sich der Asphalt dunkel und eine Regenwand kam auf mich zu. Schade, daß Proust das nicht gesehen hat. Das überschwemmte Land hinter den Deichen, mit im Wasser stehenden Bäumen und Grasinseln. Gelände, das kein Fuß betritt.
Später hat mich wie jeden Tag Jens mit dem Jauchewagen auf seinem Weg zur Klärgrube überholt. Der Betrieb scheint zu florieren, Jauche geht immer. Ein älteres Paar war zu sehen, das auf einem handtuchgroßen Grundstück, das, schon seit ich denken kann, in einen LPG-Acker hineinragt, nebeneinander knieend Unkraut jätete. Mir tat der Rücken vom Zusehen weh, wenn die Evolutionstheorie stimmen würde, müßten Landmenschen Arme haben, die bis zum Boden reichen.
Bald kommt die Zeit, wo es wieder heißen wird: »Ostwind von allen Seiten«. Und nicht mehr lange, dann ist Frühling. Das Problem an der Natur ist, daß sie einem jeden Antrieb zu geistiger Tätigkeit nimmt, die Sache rollt ja irgendwie, und man hält sich am besten raus. Man sollte dem Leben gegenüber die Haltung von Großeltern einnehmen, die sich damit abgefunden haben, daß die Wirtschaft auch ohne sie weiterläuft.
Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 259–279
Zwei Jahre später, Gilberte ist im Prinzip vergessen. Aber weil » ja unser Leben sowenig chronologisch verläuft «, taucht ,» das Ich, das sie geliebt hatte «, manchmal wieder auf, » und zwar viel häufiger aus einem nichtigen Anlaß als aus einem wichtigen Grund «. Wir leben nicht nur in der Gegenwart (vielleicht sogar nie), sondern wir sind eine Vielzahl von verschütteten Ichs, die wachgerufen werden können. Alle, die in einem langen Leben zusammenkommen, zu verwalten, erfordert Kraft.
Das Gedächtnis arbeitet paradox, die Gewohnheit schwächt gerade die starken Eindrücke ab, aber das Unbedeutende setzt sich durch: » Daher lebt der beste Teil unseres Erinnerns außerhalb von uns, in dem feuchten Hauch eines Regentages, dem Geruch eines ungelüfteten Raums, dem Duft eines ersten Feuers im Kamin, das heißt überall da, wo wir von uns selbst das wiederfinden, was unsere Intelligenz als unverwendbar abgelehnt hatte, die letzte Reserve, die beste der Vergangenheit, die, wenn all unsere Tränen versiegt sind, uns immer noch neue entlocken wird. « Erinnern heißt also Weinen? Kinder sind dann eine Art Maschine, bei der man nie weiß, auf welche Muster sie reagiert. Ihr Gedächtnis ist ein unkonventionelles Netz, das man über seine eigene Gegenwart wirft und in dem sich nicht der größte Fisch fängt, sondern vielleicht einer, den man selber übersehen hat. In zwanzig Jahren wird man staunen, was hängengeblieben ist (wenn sie dann noch mit einem reden).
Das beste Mittel gegen Liebeskummer ist Verreisen, Marcel fährt mit der Großmutter nach Balbec ans Meer. » In Balbec unterstützte ein neues Bett, an dem mir jeden Morgen ein anderes Frühstück als das in Paris gewohnte serviert wurde, die Gedanken nicht mehr, aus denen meine Liebe zu Gilberte ihre Nahrung gezogen hatte. « (Vielleicht hätte es ja auch schon geholfen, sich in Paris sein Frühstück selbst zu machen?)
Er hatte lange von der »persischen« Kirche in Balbec geträumt, von der er nur Bilder besaß und die er sich quasi mitten im Meer stehend von Wellen umtost vorstellte, was sich schon aus dem Klang des Namens »Balbec« ergab. Jetzt wartet die nächste Ernüchterung auf ihn (nach der Berma und Bergotte und vielleicht ja auch dem unterschlagenen ersten Sex mit der Cousine auf dem Sofa der Tante). Aber er ist schon ein Ernüchterungsprofi: » Ich aber hatte, sogar schon bevor ich die Berma sah, gelernt: was immer ich liebte, würde mir nur nach qualvollem Ringen zuteil, in dessen Verlauf ich zunächst mein Vergnügen jenem höchsten Gut opfern müsse, anstatt ihm nachzugeben. «
Im Zug bekommt er Bier und Kognak zu trinken, um weniger unter der Fahrt zu leiden. Er empfindet » ein Wohlgefühl dabei mit halboffenem Munde dazusitzen « (während seine Großmutter Madame de Sévigné liest, eine Szene, die nach einer Verfilmung schreit).
Eingerahmt vom Zugfenster, also wie auf der Kinoleinwand, sieht er eine bemerkenswerte Szene. Auf der einen Seite des Zuges ist schon Morgen und auf der anderen noch Nacht. Er rennt immer hin und her, um das Bild im
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