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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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ganzen zu erfassen. Dabei sieht er ein großes Mädchen aus einem Haus treten » und auf dem von der schräg einfallenden Morgensonne beschienenen Pfad mit einer Milchkanne in der Hand auf den Bahnhof zukommen «. Ein bißchen wie die Quarkstulle, nach der sich des Esseintes in »À rebours« plötzlich sehnt. » Ich fühlte bei ihrem Anblick den Durst nach Leben, der jedesmal dann entsteht, wenn uns von neuem Schönheit und Glück bewußt werden. Wir vergessen immer, daß beide etwas Individuelles sind, und ersetzen sie in unserm Geist durch einen konventionellen Typ, den wir aus einer Art von Querschnitt durch die Gesichter gewinnen, die uns gefallen, den Genüssen, die wir an uns erfahren haben, und so erhalten wir nur Abstraktionen, die kraftlos und matt bleiben müssen, da ihnen gerade jenes Charakteristikum einer neuen und von allen uns bislang bekannten unterschiedenen Sache fehlt, jenes Eigentliche der Schönheit und des Glücks. « Die flüchtige Begegnung mit einer Fremden, die man nie wiedersehen wird. Wie schön, wenn man noch jung ist und sie als Versprechen empfindet und nicht wie Menschen in meinem Alter als Symbol aller im Leben verpaßten Möglichkeiten.
    » So gähnt ein literarischer Kenner von vornherein, wenn man ihm von einem neuen ›schönen Buche‹ spricht, weil er sich darunter einen Absud aus allen schönen Büchern, die er gelesen hat, vorstellt, während ein schönes Buch einzigartig und unvorhersehbar ist, nicht die Quintessenz aller ihm vorausgegangenen Meisterwerke, sondern etwas, was man durch vollkommene Aneignung aller dieser nicht finden kann, denn es liegt ja außerhalb ihrer. «
    Und schließlich die Ernüchterung: In Balbec sind es zum Meer fünf Meilen (nach Balbec-Plage, der alte Reiseveranstaltertrick …). Der ersehnte Kirchturm erhebt sich nicht hagelumtost und » wie eine trutzige normannische Klippe « über » flutumspülten Klippen «, sondern an einem Platz, wo sich zwei Straßenbahnlinien kreuzen und wo an einem Café » in goldenen Lettern das Wort ›Billard‹ stand «. (Heute steht dort »Coca Cola« und es gibt sicher keine Straßenbahn mehr, sondern einen Kreisverkehr. Und vermutlich wurde das Wort »Billard« in goldenen Lettern vom Office du Tourisme kürzlich wieder angebracht, um die Nostalgie der Touristen nach Prousts Epoche zu befriedigen.)
    Verlorene Praxis:
    – Sich als Jugendlicher, um zu verhindern, daß man während der Fahrt aus Nervosität Erstickungsanfälle bekommt, auf ärztlichen Rat bei der Abreise eine reichliche Dosis Bier oder Kognak zuführen.
    – Beim Anblick des Milchmädchens von einem Zustand erfaßt werden, der einen in ein unbekanntes und unendlich viel interessanteres Universum einführt.
    38. Do, 24.8., Alt-Lipchen
    Die erste Erkältung kündigt sich an. Wenn ich denke, was ich leisten würde, wenn ich nicht unter diesem Körper zu leiden hätte! Ich hatte immer die Hoffnung, die Bakterien würden irgendwann das Vergnügen daran verlieren, einem am Boden Liegenden zuzusetzen, aber wer kann sich schon in ihre perversen Hirne versetzen, vielleicht spielen sie auch mit mir wie die Katze mit der halbtoten Maus.
    Was ich bei diesem Dorfaufenthalt gelernt habe: Jede Pflanze hat ihren Parasiten, beim Mais ist es der Zünsel. Der Wels wird drei Meter lang und achtzig Jahre alt. Er schmeckt eigentlich immer, man kann ihn backen, braten, räuchern oder einlegen. Noch besser, nämlich milder, schmeckt allerdings der Zander. Weil nach der Wende im Osten alle Kleingärtner die neuen Koniferen gepflanzt haben, vor allem Wacholder, hat sich der Birnengitterrost ausgebreitet, und es gibt keine guten Birnen mehr. Wenn man ein Dach deckt, kommt zwischen Dachziegel und Gebälk eine Plane, so daß der später dazwischen geratene Pulverschnee abrieseln kann. Wenn man ein Huhn auf die Seite legt und ihm einen Grashalm aufs Auge tut, bleibt es liegen. Der Schutz der Füchse hat dazu geführt, daß die Fasane aufgefressen wurden, weshalb inzwischen die Kartoffelkäfer überhand nehmen. Auf dem Land bekommen junge Paare ihre Kinder automatisch erst, wenn das Haus fertiggebaut ist. Beim Heumachen ist man dem lieben Gott sein Affe. Frißt ein Schaf zuviel Klee, bildet sich Schaum im Bauch, weil Schafe keine Blähungen bekommen, und man muß ihn aufstechen. Wenn man seine Urlaubsbräune möglichst lange behalten will, darf man nicht warm duschen. Pro Person darf man aus Polen eine Stange Zigaretten einführen. Wenn’s Wetter so bleibt, regnet’s heute

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