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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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früheren Umfang zurück, sobald der Druck der Gewißheit wich, als ich mich nämlich entschloß, doch einmal den Kopf zu wenden, und Elstir ein paar Schritte von mir entfernt bei den Mädchen stehen, sich aber gerade von ihnen verabschieden sah. «
    Er hat zu lange gezögert, sie sind wieder weg, aber die Unlust deswegen ist ja nur die Kehrseite der Lust.
    » Das Gesicht derjenigen, die ihm am nächsten war, hatte in seiner breiten, vom Schimmer der Augen erhellten Form das Aussehen eines flachen Kuchens, durch den man an zwei Stellen ein wenig Himmel sah. « Ich versuche mir ein Mädchengesicht vorzustellen, das wie ein flacher Kuchen mit durchscheinendem Himmel aussieht und in irgendeiner Weise attraktiv ist. Nach rein ästhetischen Gesichtspunkten hätte er ihr die Frauen von Veronese vorziehen müssen. » [I]ch hatte mit dem, was ich als ‚sie‘ bezeichnete, einen langen, inneren Dialog geführt, in dem ich sie fragen, antworten, denken, handeln ließ, und in der unendlichen Serie der vorgestellten Albertinen, die in mir stündlich aufeinanderfolgten, kam die wirkliche Albertine, die ich am Strande erblickt, nur am Anfang vor, so wie die Schauspielerin, die eine Rolle kreiert hat, der ›Star‹, im Verlaufe einer langen Reihe von Aufführungen nur in den ersten auftritt. «
    In der Liebe weiß man nicht, was man in der Phantasie des anderen schon verbrochen hat. Aber irgendwie wird man dann trotzdem dafür verantwortlich gemacht.
    Und wer war die Frau auf dem Porträt, das vor Madame Elstir versteckt werden mußte? Keine andere als die junge Odette! Natürlich sieht sie auf dem Bild noch nicht so aus, wie sie sich später selbst stilisiert hat. Denn wie arbeiten Maler? » Die ganze künstlerische Harmonie, die eine Frau ihren Zügen gleichsam aufzwingt und deren Weiterbestehen sie im Spiegel überwacht, wobei sie der Neigung des Hutes, der Anordnung des Haars, der Munterkeit des Blicks die Aufgabe zuweist, immer wieder den gleichen Effekt zu erzielen, löst der Blick des Malers sekundenschnell in ihre Bestandteile auf; sein Auge nimmt an ihrer Stelle in den Besonderheiten des Modells eine Umgruppierung vor, so daß es eher einem weiblichen oder künstlerischen Ideal entspricht, das er in sich trägt. « Das gilt natürlich auch für geschriebene Porträts, und es ist riskant, die von einer Frau ihren Zügen aufgezwungene künstlerische Harmonie nach dem eigenen Ideal aufzulösen und umzugruppieren. Aber während die Frau sich am liebsten in einem Kleid photographieren läßt, in dem ihre Figur so vorteilhaft zur Geltung kommt, daß sie wie » die Tochter ihrer Tochter aussieht «, wird der Maler » im Gegenteil alle nachteiligen Züge hervorheben, die sie selbst sorgfältig zu verstecken sucht, die aber, wie beispielsweise ein gelblicher oder sogar grünlicher Teint, ihn erst recht zur Wiedergabe reizen, weil sie ›charakterisieren‹« .
    Saint-Loup muß zurück in die Garnison und schreibt Marcel von dort einen Brief: » Am liebsten hätte ich die Erinnerung an die mit Ihnen verbrachte Zeit an diesem ersten Tage ganz für mich genossen, ohne Ihnen zu schreiben. Aber dann fürchtete ich, Ihr erlesener Geist und Ihr übersensibles Herz könnten befremdet sein, wenn Sie keinen Brief bekämen, wofern sie überhaupt geruhen, Ihre Gedanken bis zu dem rauhen Reitersmann schweifen zu lassen, der Ihnen noch manches aufgeben wird, bis er weniger ungehobelt, kultivierter und Ihrer würdiger ist. « Solche Briefe müßte man bekommen! Aber man kann sich seine Freunde nicht hobeln.
    Verlorene Praxis:
    – Seinen schönsten Spazierstock bei sich führen.
    – Aus jeder einen selbst oder andere betreffenden Begebenheit » zur Belehrung der jüngeren Menschen den Teil an Wahrheit herausstellen, den sie enthält «.
    50 . Mi, 6.9., Berlin
    Manche vernichten nach einer Enttäuschung (wo doch jeder Ausflug in die Wirklichkeit in gewissem Maß enttäuschend ist) alle Bilder und Briefe des Betreffenden. Kann man Erfahrungen als »Fehler« bezeichnen? Als könne man im Leben zwischen Richtig und Falsch unterscheiden, wo doch das eine immer ins andere übergeht. Ich glaube, ich habe noch Zettel, die mir vor zwanzig Jahren an die Tür gehängt wurden. Aber ich sehe mir mein Museum nur noch ungern an. Man muß die Konfrontation mit der Vergangenheit behutsam dosieren, man geht ja auch nicht am selben Tag in zwei Wagner-Opern. Es ist schon ein Schock, jemanden, mit dem man mal zusammen war, nach zehn Jahren wiederzutreffen.

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