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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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gewissen Ermüdung des Geistes nicht mehr gelingt, und man » zu vermehrter Beeinflußbarkeit durch passiv empfangene Eindrücke « neigt. » [E]s ist das Alter, in dem wir gern die Schönheit mit den Blicken streicheln. «
    Unklares Inventar:
    – Ein weißer Plastron.
    Verlorene Praxis:
    – Das Thema wechseln, um » die Wolke stolzer Schwermut wieder zu zerstreuen «, die man auf der Stirn eines Künstlers heraufbeschworen hatte.
    49. Di, 5.9., Berlin
    Er ist ein Kollege aus einem kleinen Land in Osteuropa, das mit Erfolg Autoren in den Westen exportiert. Obwohl er erst ein Buch geschrieben hat, ist er in seinem Land weltbekannt. Als Kind mußte er kämpfen, weil das Gebiet, in dem er wohnte, einmal seiner adligen Familie gehört hatte und die Gleichaltrigen ihn deshalb ständig herausforderten. Bei den landesweiten Schulwettbewerben war er immer der Beste, erzählt er ohne falsche Bescheidenheit. Später flog er von der Schule, weil er sich bei einer Feier weigerte, ein stalinistisches Gedicht aufzusagen, nicht weil es stalinistisch war, sondern weil es ihm als Gedicht nicht gefiel. Egal, was man ihm erzählt, er kontert mit einer besseren Geschichte. Wenn man erwähnt, man sei zufällig am 11. September in New York gewesen, erzählt er, daß er zu dieser Zeit im East Village gelebt habe. Wenn man berichtet, daß man im » Memorialul victimelor comunismului şi al rezistenţei « in Sighet, einer Stadt im Norden Rumäniens gewesen ist, wo man die Zelle des Politikers Julius Maniu sehen kann, dessen Hut dem Museum vom ehemaligen Gefängnisdirektor, der immer noch im Ort wohnt, seit Jahren vergeblich zum Kauf angeboten wird, erzählt er einem, daß er im Süden der USA in einem historischen Museum den Kinderschädel des minderjährigen Napoleon ausgestellt gesehen habe. Vielleicht kann man es in diesem Beruf nur so zu etwas bringen. Er ist ein Jahr älter als ich, und ich hoffe, es ist nicht das eine Jahr, das mich noch davon trennt, so zu werden.
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 508–529
    Von seelischen Problemen bedrückt hätte Marcel keine Angst vor einem gewaltsamen Tod, denn der wäre nichts verglichen mit seinen Sorgen, und er sieht ihm » fast mit einem Gefühl der Erleichterung, ja der Heiterkeit ins Auge «. So geht es mir im Flugzeug, ein eigenartiges Phänomen, daß einen der Tod weniger schreckt als das Ausfüllen der Steuererklärung oder ein Bewerbungsgespräch oder auch nur der Aufwand, einmal die Wohnung zu wischen. Wie sollte man so in einem Straflager überleben?
    Endlich ist er mit Elstir am Strand, er überlegt sich Vorwände, um ihn dort aufzuhalten, wo er die »kleine Schar« erwartet. Schließlich erscheinen sie tatsächlich, und sie sehen aus »als bemerkten sie mich nicht, obwohl sie sicher gerade über mich ironische Bemerkungen austauschten «. Es ist fast schon enttäuschend, sich irgendwann im Leben klarzumachen, daß nicht ständig alle über einen reden, und sei es schlecht. Besonders im Ausland, wenn man die Sprache kaum versteht und der ganze Bus sich über einen lustig zu machen scheint. Aber in Wirklichkeit haben sie einen gar nicht bemerkt.
    Gleich werden die sportlichen Mädchen Elstir begrüßen und dieser wird Marcel dazurufen und ihnen vorstellen, und da das so unvermeidlich scheint, wendet sich Marcel » wie ein Badender um, der die Welle über sich hinwegfluten lassen will «. Denn am Ziel seiner Wünsche verlassen ihn mal wieder seine Wünsche: » Seitdem das Vergnügen, sie kennenzulernen, unvermeidbar war, schrumpfte es in sich zusammen. « Wieder kann er nur begehren, was sich ihm entzieht. Das »Fort-da«-Spiel, das Freud am Kleinkind beobachtet, wenn es eine Spule aus dem Ställchen wirft und wieder hereinzieht. Die Spule steht für die Mutter, deren Anwesenheit dem Kind Lust und deren Abwesenheit ihm Unlust bereitet. Da es das Verhalten der Mutter nicht kontrollieren kann, benutzt das Kind die Spule, um sich das Lust-Unlust-Gefühl nach Belieben zu verschaffen. Sie immer im Ställchen zu behalten, wäre reizlos, denn Freud schreibt, daß Glück nur als episodisches Phänomen möglich ist: »Jede Fortdauer einer ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen.« Marcel müßte also eine Art seelisches Gummiband konstruieren, an dem er die Mädchen vor und zurückschnipsen lassen könnte, um ihre An- und Abwesenheit zu kontrollieren. Und tatsächlich: » Dementsprechend aber erlangte sie [die Freude] in gleichsam elastischem Zurückschnellen ihren

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