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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Studenten eigentlich zum Durchleben von emotionalen Grenzsituationen angehalten werden, damit sie die Komplexität bekommen, die man braucht, um große Texte zu verstehen. Aber nichts steht dem behaglichen Genuß eines Buchs mehr im Weg als wirkliche Emotionen. Nur wenn man sich wohlig zurücklehnen kann, weil man seine Gefühle zeitweise durch die anästhesierende Wirkung der Gewohnheit zum Schweigen bringt, hat man die nötige Konzentration. Wie zufrieden war der kleine Herr Friedemann mit seinen Büchern und einem guten Glas Wein, bis die grausame Gattin des neuen Rittmeisters im Ort auftauchte und ihn daran erinnerte, daß er ein Mann war. Ist Liebe nicht eine Krankheit, für deren Behandlung man Ärzte ausbilden sollte? Sollte es nicht unter Strafe gestellt werden, den Zustand ausbalancierter Empfindungslosigkeit zu zerstören, den sich jemand mühsam aufgebaut hat, weil er die Ausschläge des Pendels fürchtet? Für manche Menschen ist es ratsam, sich langsam zu bewegen, viel zu schlafen und sich seelisch gegen Erschütterungen zu polstern wie ein Glasknochenpatient seine Arme und Beine. Ihren Kopf transportieren diese Menschen mit ängstlicher Vorsicht durchs Leben wie ein Ei beim Eierlauf. Und sie warten täglich auf einen Grund, sich ins Unglück zu stürzen.
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 487–508
    Nun also doch zu Elstir, endlich ein Atelierbesuch, die konzentrierte Atmosphäre, in der man studieren kann, wie ein Maler Fragmente der Welt sammelt und in Kunst verwandelt, macht Marcel zunächst » vollkommen glücklich «. Er bedankt sich bei Elstir für die Einladung und verwendet dabei das Wort »Ruhm«, was Elstir traurig zu stimmen scheint: » Menschen, die glauben, daß ihre Werke die Zeiten überleben werden – und das war bei Elstir der Fall –, nehmen die Gewohnheit an, sie in einer Epoche zu sehen, da sie selbst zu Staub zerfallen sind. Indem er sie aber in dieser Weise an das Nichts zu denken zwingt, stimmt der Gedanke an den Ruhm sie traurig, da er von dem an den Tod nicht zu trennen ist. «
    Und wie das Leben spielt, lange hatte Marcel den Besuch aufgeschoben aus Angst, am Strand die sportlichen Mädchen zu verpassen, und jetzt sieht er ausgerechnet hier, » im Rahmen des kleinen Fensters «, eine von ihnen auftauchen, und nicht nur das, sie begrüßt den Maler, denn sie und ihre Freundinnen kommen regelmäßig ins Atelier. Es ist die mit » den munteren, etwas forsch verweilenden Blicken «, und sie heißt Albertine Simonet. Ein dem Leben abgeguckter Effekt, denn jetzt fällt ein bereits erwähnter Name mit einer bereits eingeführten Person zusammen.
    Wobei die Erinnerung ein autonomes Leben führt, man gewinnt verschiedene Eindrücke von Menschen, und in jedem von ihnen handelt es sich eigentlich um eine andere Person, die man nie wiedersehen wird, wie auch » das junge Mädchen mit den runden Wangen, das mir so kühn in die Augen blickte an der Ecke, wo die kleine Gasse auf den Strandweg stieß, und von dem ich glaubte, ich könne vielleicht ihre Liebe erlangen«, er hat sie »im wahrsten Sinne des Wortes niemals ›wiedergesehen‹« .
    Elstir wird mit ihm spazierengehen, und Marcel hofft, daß sie den Mädchen begegnen, und er ihnen von Elstir vorgestellt wird. Aber der Aufbruch verzögert sich, und Marcel betrachtet in seiner Ungeduld das Porträt einer jungen Frau, deren Identität später noch aufgeklärt wird. Es wird schon dunkel, sie werden die Mädchen verpassen … Als Madame Elstir auftaucht, muß das Porträt schnell versteckt werden. Elstirs Frau mißfällt Marcel: » Ich fand sie sehr langweilig; freilich hätte sie schön sein können, wäre sie zwanzig Jahre jünger gewesen, und hätte vielleicht einen Ochsen durch die Campagna geführt. « Tragisch, wenn es einen kleidet, Ochsen durch die Campagna zu führen, und man statt dessen in der Bretagne als Frau eines Malers lebt. Aber Marcel versteht schnell, daß Madame Elstir die Inkarnation des in Elstirs Werk dargestellten Idealtyps ist, weshalb dieser sie so rührend verehrt: » Welches Ausruhen für ihn, seine Lippen auf dies Schöne zu drücken, das er bis dahin so mühevoll aus sich selbst ziehen mußte, das sich nun aber, geheimnisvoll Leib und Fleisch geworden, zu immer neuer heilspendender Kommunion ihm bot! « Denn mit dem Alter wird man bedürftiger für materielle Schönheiten, weil » die Verwirklichung des Ideals «, die man in der Jugend allein aus der » Macht des Gedankens « erwartet, infolge einer

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