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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Vielleicht meidet man deshalb zunehmend die Menschen. Das anstrengende Nachjustieren der Selbstwahrnehmung. Schon das serielle Kunstwerk der Paßbildsammlung, die jeder von sich besitzt, enthält das ganze Grauen. Welcher Zusammenhang läßt sich zwischen den Jochen Schmidts herstellen, an die ich mich erinnere, wenn ich an mein Leben zurückdenke? »Der Mann, den sie ich nannten«, wollte ich meine Autobiographie immer nennen.
    Es gibt eine Szene in »Frasier«, wo dem Psychologen Frasier in einem Holzhäuschen in den Bergen alle Ex-Frauen erscheinen, inklusive der Mutter, und über ihn ein Strafgericht halten. So etwas kann mir täglich passieren, ich muß nur einmal versäumt haben, vor Beendigung einer Arbeit eine neue Arbeit zu beginnen. Denn wenn der Abgrund zwischen zwei Arbeiten, den manche als »Freizeit« bezeichnen, zu groß ist, geht das Theater los. Mit zunehmendem Alter hat man ein Arsenal von dramatischen Szenen im Gedächtnis, verwirrenden Gefühlen, verpassten Gelegenheiten, schmerzhaften Erfahrungen, für die das Bewußtsein zu klein ist.
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 529–549
    Er möchte » die momentane Frische und Eleganz, die beim Verlassen des Hotels an mir festzustellen war (dank einer ausgedehnteren Ruhe und der besonderen, meiner Toilette gewidmeten Aufmerksamkeit) « eigentlich lieber » für die Eroberung einer anderen, interessanteren Person aufsparen «, statt Albertines Bekanntschaft zu machen. Die Schlüpfer-Hierarchie, welche Frau ist welche Qualität wert? Oder muß man sogar neue kaufen? Bei wem muß es Sekt sein und bei wem reicht der billige Wein, den man selbst trinkt?
    Als Marcel Albertine vorgestellt werden soll, hat er die Ruhe weg und ißt erst sein Eclair auf, um danach einen Herrn » nach Einzelheiten über normannische Volksfeste « auszufragen. Es macht ihm dann zwar Spaß mit ihr, aber: » Es ist mit solchen Freuden wie mit Photographien. Was man in Gegenwart der Geliebten aufnimmt, ist nur ein Negativ, man entwickelt es später, wenn man zu Hause ist und wieder über die Dunkelkammer im Innern verfügt, deren Eingang, solange man andere Menschen sieht, wie ›zugemauert‹ ist. « Einerseits stellt er an Albertine sofort einen » kleinen Leberfleck auf der Wange unterhalb des Auges « fest und » eine entzündete Schläfe, die nicht sehr schön aussah «, wofür ihn eigentlich alle Leserinnen hassen müßten, andererseits verwendet sie das Adverb »vollkommen« an Stelle von »ganz«, was wieder für » einen gewissen Grad von Geschliffenheit und Kultur « spricht, dessen » ich diese radfahrende Bacchantin und rauschhaft rasende Muse des Golfspiels gar nicht für fähig gehalten hätte «.
    Nun wird einem von Frauen gerne vorgehalten, man sei nicht an ihnen interessiert, sondern an einem Bild, das man sich von ihnen gemacht hat. Das kann man verstehen, aber: » Von welcher trüben Langeweile muß das Leben der Menschen erfüllt sein, die aus Trägheit oder Schüchternheit sich unmittelbar im Wagen zu Freunden begeben, die sie kennenlernten, ohne zuvor von ihnen geträumt zu haben, und niemals auf der Fahrt bei dem zu verweilen wagen, was sie sich eigentlich wünschen. « Für Marcel hat die »reale« Albertine nichts mit dem Mädchen zu tun, das er am Strand beobachtet und von dem er so ausführlich geträumt hat, sie scheint ihm » mit gauklerhafter Fingerfertigkeit « untergeschoben worden zu sein. Aber eigenartigerweise muß man ihr jetzt trotzdem treu sein, obwohl sie doch eine ganz andere ist: » Man verlobt sich mit einem Wesen, das ein anderes vertritt, und fühlt sich dann gehalten, den vertretenden Teil auch zu ehelichen. « Er ist zwar etwas enttäuscht, aber immerhin hofft er, über sie vielleicht auch die anderen Vertreterinnen der » kleinen Schar « kennenzulernen, diesen Zug von » rosig und golden strahlenden, von Sonne und Wind gehärteten Jungfrauen «.
    Das nächste Mal, als ihn auf der Mole ein junges Mädchen » mit Barett und Muff « anspricht, erkennt er Albertine kaum wieder. Aber er freut sich an ihrer zwanglosen Art zu reden. Octave, ein Bekannter von ihr, stößt dazu (seltsamerweise stoßen in der ersten Zeit mit einer Frau immer Bekannte von ihr dazu), ein müßiger junger Mann, der Golf und Baccara spielt und sich mit Kleidung, Zigarren, Bargetränken und Pferden auskennt, » mit stolzer Unfehlbarkeit erreichte er in dieser Hinsicht etwas wie die schweigsame Bescheidenheit des großen Gelehrten –, ohne die geringste

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