Schmidt Liest Proust
verliebt, ein anderer ist in eine andere Stadt gezogen – beide lesen nicht mehr denselben Text.
Gestern habe ich im Kino einen Film gesehen, der unter »einfachen Menschen« in Brandenburg spielte, selbst die Darsteller waren Laien. Mir fiel auf, daß es früher schon eine Art Ideologie für uns war, in Kunstwerken nach einfachen Menschen zu verlangen. Aber ist das nicht wie mit dem Gemüse? Wenn der Verkäufer auf dem Markt noch Dreck an den Fingern hat, denkt man, seine Möhren seien gesünder, obwohl man nicht wissen kann, wieviel Gift er spritzt. Bei Proust laufen normale Menschen nur manchmal kurz durchs Bild, auf dem Weg von der Küche zur Abstellkammer, die meiste Zeit arbeiten sie im Hintergrund daran, den Helden des Buchs ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Vom Standpunkt eines normalen Menschen hat Marcel nur Luxusprobleme. Etwas Bewegung, eine geregelte Arbeit, die einem nicht zuviel Zeit zum Nachdenken läßt, eine verständnisvolle Frau, die sich mit Hausmitteln gegen Kopfschmerzen auskennt oder vielleicht sogar massieren kann, und die Nerven würden ausbalanciert.
Ich frage lieber nicht nach, mit wem die Pankowerin an die Ostsee gefahren ist. Wäre ich enttäuscht, wenn er nicht attraktiv wäre? »Schwimme nicht weit raus, tauche aber tief«, schreibt sie mir, und es klingt wie eine heimliche Warnung vor ihrem Charakter.
Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 569–591
Mit den Mädchen ist er auf den Dünen. Anders als sie ißt er nur Schokoladenkuchen und Aprikosentörtchen, denn » mit einem Chester- oder Salatsandwich, dummen und neumodischen kulinarischen Erfindungen, wußte ich nichts anzufangen. […] Der Kuchen aber trug Wissen in sich, die Törtchen waren geradezu mitteilsam «. Sie erinnern nämlich an Combray und Gilberte. Zu seinem Glück hat Marcel nicht in der DDR gelebt und mitansehen müssen, wie mehr als nur Kuchen und Törtchen vom Markt verschwanden.
Die Mädchen sind noch in der » Morgenröte der Jugend «. Später werden die Gesichter vom » Existenzkampf verhärtet, für alle Zeiten zäh oder ekstatisch gemacht. Das eine scheint – durch die unaufhörliche Beugung unter den Gehorsam einem Gatten gegenüber – mehr das eines Soldaten als das einer Frau, das andere, das seine Formung von den Opfern her erhalten hat, die eine Mutter täglich für ihre Kinder auf sich nimmt, ein Apostelkopf «. Und wer will schon mit Soldaten und Aposteln in den Dünen sitzen, wenn » man in der Nähe junger Mädchen ein Gefühl der Erfrischung verspürt «?
Kein Wunder, daß Marcel mit ihnen »Bäumchen, wechsle dich«, oder das »Ringlein-Spiel« spielt, was eigentlich unter seinem Niveau sein sollte. Er vertröstet sogar Saint-Loup. Aber: » Die Wesen, die die Möglichkeit besitzen, für sich zu leben – allerdings sind das eigentlich die Künstler, und ich war seit langem überzeugt, daß aus mir niemals einer werden würde –, haben auch die Verpflichtung dazu; die Freundschaft nun enthebt sie dieser Pflicht und zwingt sie zum Verzicht auf sich selber. Das Gespräch sogar, eine Ausdrucksweise der Freundschaft, stellt eine oberflächliche Abschweifung dar, bei der für uns nichts zu gewinnen ist. Wir könnten ein Leben lang Gespräche führen, ohne etwas anderes zu tun, als die inhaltliche Leere einer Minute damit zu wiederholen, während der Gang der Gedanken in der einsamen Arbeit künstlerischen Schaffens sich in Richtung der Tiefe vollzieht als der einzigen Richtung, die uns nicht verschlossen ist und in der wir, mit größerer Mühe freilich, zu einer Wahrheit vorzudringen vermögen. « Man möchte ihm zustimmen, aber man möchte auch wieder nicht.
Freundschaft sei verderblich für diejenigen, deren » Entwicklungsgesetz ganz in ihrem Innern ruht «, und die sie daran hindert, » ihre Entdeckungsreise in die Tiefe fortzusetzen «. Was der Freund gesagt hat, muß man » als einen kostbaren Beitrag ansehen, während wir doch nicht wie irgendwelche Bauwerke sind, an die man von außen her Steine herantragen kann, sondern vielmehr wie Bäume, die aus ihrem eigenen Lebenssaft den nächsten Ring ihres Stammes, die Entfaltung der Laubkrone ziehen «. Denn, wenn wir mit anderen plaudern, sind nicht » wir mehr die Sprechenden «, sondern wir formen uns nach dem Bilde eines Fremden.
Das Anstrengende in Gesellschaft, daß man sich auf die anderen einstellt, bis man aus Höflichkeit das Gegenteil von dem behauptet, was man denkt, um sich dann dafür auch noch angreifen zu lassen. Der
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