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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Ding nannte sich ›Diabolo‹ und ist derart aus der Mode gekommen, daß vor dem Porträt eines jungen Mädchens mit einem solchen Gegenstand künftige Kommentatoren gelehrte Ansichten werden äußern können «. Hier irrt der Autor, das Ding ist leider wieder in Mode gekommen und hält junge Menschen vom Ausüben nützlicher Tätigkeiten ab. Schade, daß aus Prousts Zeit ausgerechnet das Diabolo überlebt hat und nicht zum Beispiel das Korsett.
    Nach und nach nähert sich Marcel auch den anderen Vertreterinnen der »kleinen Schar«. Gisèle zum Beispiel, die am Strand den armen Greis verspottet hatte und deshalb zu den grausamsten unter ihnen zu gehören schien, ist in Wirklichkeit » ein scheues Kind «. Sie läßt einmal flüchtig ein Lächeln aufblitzen, worauf er sofort Feuer fängt und sich sagt, sie habe in den letzten Tagen nur » mißmutig ausgesehen, weil es ihr nicht gelang, meine Bekanntschaft zu machen «. Das ist natürlich eine radikale Umdeutung.
    Albertine ist eigentlich die unattraktivste von ihnen: » Auf ihrem mißmutig geneigten Kopf hatte hinten das Haar in einer mir fremden Weise geglänzt, als wenn sie eben aus dem Wasser käme. Ich hatte an ein nasses Huhn denken müssen. « Eine dieser Beobachtungen, für die man sich schämt. Man kann aber nicht lieben, ohne einen Rückstoß zu erzeugen. Bei neuen Bekanntschaften fürchtet man nichts mehr, als daß die Frau plötzlich wie ein nasses Huhn aussieht, auch wenn erst danach die Realität beginnt.
    Er will nun Albertine vernachlässigen, um Gisèle, die in Paris ihre Prüfungen ablegen wird, nachzueilen und sie im Zug zu treffen, » denn in den Epochen meines Lebens, in denen ich nicht verliebt war, es aber gern gewesen wäre, trug ich nicht nur ein körperliches Schönheitsideal in mir, das ich, wie man gesehen hat, in jeder Vorübergehenden wiederzuerkennen glaubte, wenn sie mir nur genügend fern blieb, […] sondern außerdem auch noch ein – stets zur Verkörperung bereites – seelisches Klischee der Frau, die sich in mich verlieben und mir in der Liebeskomödie, die ich seit meiner Kindheit fertig im Kopf hatte und in der, wie ich mir einbildete, jedes halbwegs liebenswürdige junge Mädchen gern mitgespielt hätte, wofern sie für die Rolle die geeigneten körperlichen Voraussetzungen besaß, das Stichwort geben würde «.
    Während man selbst für so einen Gedankengang heftig attackiert würde, ist Proust dafür berühmt geworden, ist das nicht ungerecht?
    Er weiß, daß » unter der rosigen Blüte einer Albertine, Rosemonde, Andrée, ihnen selber unbekannt und durch die Umstände noch zurückgehalten, eine dicke Nase, ein derber Mund, eine Körperfülle wohnten, die überraschen würden, aber in Wirklichkeit schon in der Kulisse warteten, bereit auf die Bühne zu treten «. Unter diesen Umständen ist es ihm natürlich nur um so höher anzurechnen, wenn er sich mit diesen Mädchen abgibt, obwohl er die dicken Nasen, die sie einmal haben werden, kaum ignorieren kann. » Wie bei einer Pflanze, an der die Blüten zu verschiedener Zeit zu Früchten reifen, sah ich am Strande von Balbec bereits die alten Damen, die harten Fruchtschoten, die schwammigen Wurzelknollen der Augen, zu denen meine Freundinnen eines Tages zwangsläufig werden mußten. «
    Übrigens hat Marcel Gisèles Zug wegen einer Schranke und einer Fahrplanänderung um fünf Minuten verpaßt. So arbeitet das Schicksal, dieser Roman wird ungeschrieben bleiben. Wenn sich in der »Recherche« Wendungen ergeben oder wenn sie ausbleiben, dann durch Unfälle und Pannen. Aber im Grunde ist es ja egal, welchen Roman Marcel am Ende erleben wird, man wählt sich Wesen, welche sich eignen, » uns Leiden des Herzens zu bereiten […]. So könnte ein Romanschriftsteller in der Lebensgeschichte seines Helden dessen aufeinanderfolgende Liebeserlebnisse fast genau gleich darstellen «.
    Unklares Inventar:
    – Linon, Drell, Barègekleid.
    Verlorene Praxis:
    – Ein Mädchen, während seine Miss ein Schläfchen macht, im Durchgangswagen des Zugs in eine dunkle Ecke ziehen, um mit ihm eine Begegnung in Paris zu verabreden.
    – Sich als Frau seine Automobilkleidung bei Callot, Doucet, Cheruit oder Paquin schneidern lassen.
    52 . Fr, 8.9., Berlin
    An manchen Tagen begeistert einen jeder Satz, an anderen quält man sich. Ich bin mir gar nicht sicher, ob das am Text liegt oder an mir selbst. Das Urteil wird von Emotionen verfälscht, die einen während der Lektüre begleiten. Ein Kritiker ist

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