Schmidt Liest Proust
Entsprechung auf dem Gebiet der Kultur des Geistes «. Herrlich, diese späte Genugtuung beim Beschreiben lästiger Konkurrenten: » Da völliges Nichtstun aber die gleichen Wirkungen hervorbringt wie Überarbeitung, und zwar sowohl auf psychischem wie auf körperlichem Gebiet, hatte die unaufhörliche Abwesenheit jedes geistigen Impulses hinter der Denkerstirn des bewußten Octave den Effekt, ihn trotz seiner nach außen hin zur Schau getragenen Ruhe mit einem völlig zwecklosen Denkbedürfnis zu erfüllen, das ihn des Nachts am Schlafe hinderte, wie es einem überarbeiteten, mit metaphysischen Problemen ringenden Philosophen widerfährt. «
Wie schwer es ist, sich zum ersten Mal mit einer Frau zu unterhalten, die man noch nicht gegoogelt hat, » ganz als wenn man Kieselsteine in einen bodenlosen Abgrund wirft. […] Wenn wir uns aber außerdem noch in Gegenwart eines Menschen befinden, dessen Erziehung […] uns völlig unbekannt ist wie auch seine Meinungen, seine Lektüre, seine Prinzipien, wissen wir nicht, ob unsere Worte etwas in ihm wecken, was ihnen stärker entspricht als im Falle eines Tieres, dem wir trotz aller Verschiedenheit gewisse Dinge begreiflich machen wollen «. Man müßte eben Handouts tauschen, auf denen die wichtigsten Angaben über einen stehen. Man muß ja wissen, wie tief man sich hinunterbeugen oder wie sehr auf die Zehenspitzen stellen muß. Das beste Mittel für einen Autor ist natürlich, ihr erst einmal alle seine Bücher zum Lesen mitzugeben. Aus ihrer Reaktion darauf würde man alles über sie erfahren. Da es aber als eitel gilt, seine Bücher immer dabei zu haben, muß man sich in atavistischen Kommunikationsformen üben, zum Beispiel ihren Gesichtsausdruck deuten. Aber: » Der gleiche physiognomische Ausdruck ließ verschiedene Deutungen zu; ich zögerte wie ein Schüler bei einer Übersetzung aus dem Griechischen. « Und noch schwerer ist es ja, den eigenen Gesichtsausdruck zu kontrollieren, das ist nämlich, als würde man seine Gedanken ins Griechische übersetzen.
Unklares Inventar:
– Im Break fahren.
Verlorene Praxis:
– Sich vornehmen, dem Mädchen gegenüber » bei der nächsten Begegnung kecker aufzutreten «.
51 . Do, 7.9., Berlin
Es ist wirklich ein Jammer, daß man nicht radikal autofiktional schreiben kann, ohne seine Umwelt zu irritieren oder gerichtliche Klagen zu provozieren. Als sähe sich ein Verhaltensbiologe genötigt, seine Erkenntnisse über die Springmäuse einem fiktiven Verhaltensbiologen unterzuschieben, nur um die Springmäuse nicht zu verärgern. Die Menschen scheinen ein irrationales Verhältnis zum geschriebenen Wort zu pflegen, als handle es sich um Zaubersprüche.
Ich habe Ausländerinnen erlebt, die tief beleidigt waren, weil man sich über eine von ihnen leicht verdrehte deutsche Wendung gefreut hat, wie man sich eben über alles freut, worauf man von selbst nicht gekommen wäre. Wenn jemand »Ohrstopfer« benutzt, »seine deutsche Erkenntnisse« verbessern will oder einen Autor liest, dessen Bücher »ganz nach Kanonen geschrieben sind«. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß solch ein »Fehler« ein wertvolles Fundstück darstellt. Man hat doch nicht nur eine Verpflichtung den Menschen gegenüber, sondern auch gegenüber der Kunst. Ein Motiv ungenutzt zu lassen ist ein Verbrechen. Und die Wirklichkeit übertrifft sich eben immer wieder selbst. Heute saß im Publikum eine Jüdin aus Israel, deren Vorfahren aus Odessa und Weißrußland stammen, die Philosophie und Lacan studiert, besessen vom Holocaust ist, Sprüche von Marx zitiert (die ich seit der Schule vergessen hatte), Jiddisch versteht und die Filme von Woody Allen in der richtigen Reihenfolge bewertet. Die Stasi hätte keinen IM sorgfältiger auf mich ansetzen können. Mich interessiert das aber nur als Motiv aus der Sitcom, die mein Leben ist. Und da muß man sagen, gab es etwas Ähnliches bereits in einer früheren Staffel. Die Frage ist, ob man die Handlung in seinem Leben so zu gestalten versucht, daß sie dramaturgischen Ansprüchen genügt, oder ob man eine Serie für das größere, weniger anspruchsvolle Publikum produziert, das mit leichten Variationen immer das gleiche erwartet. Es ist schon seltsam, man schreibt zwar, weil man sonst nicht mehr leben könnte, aber je radikaler man schreibt, umso schwerer macht man sich das Leben.
Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 549–569
Mit einer Schnur hebt Albertine » einen merkwürdigen Gegenstand in die Höhe […] das
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