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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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laut sind, von allen Arbeiten entbunden scheinen und sich nachts nicht einschließen müssen. Ich frage mich immer, was einen am Leben hält, wenn man kein Zuhause hat. Es muß einen Selbsterhaltungstrieb geben, den ich nicht habe. Im Bio-Laden lag der Prospekt einer »Kinesiologischen Emotionalbalance«, eine Frau, die mir mit »Engelenergien« helfen will, mein Seelenpotential auszuschöpfen, für fünfzig Euro die Stunde. »Hinter Ihren körperlichen und emotionalen Blockaden verbergen sich unverarbeitete, emotionale Verletzungen Ihrer Seele. Ihr Unterbewußtsein bzw. Inneres Kind hat die Gefühlserinnerung an diese schmerzhafte Erfahrung verdrängt. Immer wenn Sie in der Gegenwart mit ähnlichem, emotionalem Schmerz konfrontiert werden, macht sich das Schmerzmuster der Vergangenheit wieder bemerkbar und Sie leiden.« Mit ihrer medialen Begabung will sie mir helfen, mein Karma zu finden, »die Lernaufgabe, die sich unsere Seele in diesem Leben gestellt hat«. Erwachsen zu werden bedeutet vielleicht, sein Inneres Kind in Ruhe zu lassen und allen schmerzhaften Gefühlserinnerungen aus dem Weg zu gehen. Das Gegenteil davon ist dann Schreiben.
    Die Welt der Guermantes, S. 190–210
    Was liegt Saint-Loup an dieser Rahel? In seinen lichten Momenten weiß er zwar, daß er sie idealisiert, aber » seine Verbindung mit Rahel kam ihm wie die Erforschung eines fremden Lebens vor «. Und Paris verwandelt sich, wenn man dort eine neue Frau kennengelernt hat. Für Marcel heißt es hingegen: ein Abend zu dritt, da macht man was mit. » Sie unterbrach sich in ihren Ausführungen über Bücher, moderne Kunst und Tolstoi nur, um Saint-Loup Vorwürfe zu machen, er trinke zuviel Wein. « Die beiden schaukeln sich allerdings auch leicht hoch. Saint-Loup ist eifersüchtig auf jeden anderen Mann im Raum, und Rahel gibt seiner schlechten Laune Nahrung, weil sie » nicht den Anschein erwecken wollte, als liege ihr daran, ihn wieder freundlich zu stimmen «. Warum hört Saint-Loup nicht auf seine Vernunft? Man ahnt es: » Geschicklichkeit brachte sie nur in der Liebe auf infolge jenes rührenden Ahnungsvermögens von Frauen, die den Körper des Mannes so sehr lieben, daß sie von vornherein erraten, was diesem von dem ihren so ganz verschiedenen Leib Genuß bereiten kann. «
    Das Essen endet damit, daß Saint-Loup wegen einer Eifersuchtsattacke den Tisch verläßt (wie sagte sie doch über einen jungen Mann am Nebentisch: » Mir gefällt er aber sehr, und zwar, weil er bezaubernde Augen hat und die Frauen auf eine Weise ansieht, daß man gleich merkt, er hat Verständnis für sie. «) Aber im damaligen Frankreich gab es für zornige Männer noch eine Alternative zum pathetischen Aufbruch, denn wenig später läßt Saint-Loup ihr ausrichten, er sei in einem Séparée des Restaurants, » um sein Dejeuner zu beenden «. Dorthin folgt sie ihm, und als Marcel zu den beiden stößt, findet er Rahel » lachend unter den Küssen und Liebkosungen, mit denen er sie überschüttete «. Marcel langweilt sich dabei natürlich etwas, bis er sich mit Champagner tröstet. Er bekommt wieder seinen Rivebelle-Rausch, im Spiegel findet er sich zwar » häßlich und fremd «, prostet sich aber übermütig zu.
    Auf der Bühne hat Rahels Gesicht Wirkung, aber: » Stand man dicht neben ihr, sah man nur einen Nebelfleck, etwas wie eine mit rötlichen Tupfen und winzigen Pickeln übersäte Milchstraße, sonst nichts. « Man könnte behaupten, der Autor meine es nicht gut mit seinen Figuren, sie so unvorteilhaft ins Licht seiner Prosa zu rücken. Saint-Loup ficht das nicht an, er hatte sie ja zum ersten Mal auf der Bühne erblickt und aus der Distanz bewundert. Der Abgrund zwischen Bühne und Zuschauerraum scheint ihr eine Dimension hinzugefügt zu haben. So ist es ja mit allen beruflich bedingten Distanz-Situationen, das macht Krankenschwestern, Polizistinnen, Lehrerinnen und Kellnerinnen so anziehend. Draußen mißfallen zwar auch Saint-Loup ihre Sommersprossen und Hautunreinheiten, und es bereitet ihm nicht mehr die gleiche Lust wie im Theater, von ihrem Anblick zu träumen: » Aber obwohl er diesen nicht mehr haben konnte, bestimmte sie doch auch weiterhin seine Handlungen, so wie es die Gestirne tun, die uns durch ihre Anziehung sogar während jener Stunden beherrschen, da sie uns nicht sichtbar sind. «
    Verlorene Praxis:
    – Mit Händen und Füßen Zeichen geben, daß man mit seiner Nervenkraft am Ende ist.
    65 . Sa, 23.9., Berlin, Sonne, heiter
    Es ist

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