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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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ein vergessenes Detail fällt ihm ein. Dort hatte er einmal in einem kleinen Gasthaus gegessen, die Bedienung kam aufs Zimmer. Irgendwie streifte seine Hand ihren » nackten Unterarm « (wieder dieser nackte Arm, wie schon bei der Herzogin, eine für die Epoche reizvolle Zone, die inzwischen an Bedeutung verloren hat.) Und weil die Bedienung nicht zurückzuckt » schlug ich ihr vor, mich nach Geld zu durchsuchen «. Ein kühner Schachzug, warum ist man nie darauf gekommen? Marcel jedenfalls hatte sich damals auf diesem Weg für eine Weile tägliche Liebesfreuden verschafft.
    Verlorene Praxis:
    – Der Frau einen Wagen schicken.
    – Auf die Nachricht vom Brand im Louvre einen Freund aufsuchen und mit ihm weinen.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » Wir nehmen selten unser Leben wahr. «
    78 . Fr, 6.10., Berlin
    Seit mein Fernseher in der Kammer verstaubt, müßte ich eigentlich unendlich viel Zeit haben, und trotzdem komme ich nicht mal dazu, meine To-do-Listen durchzulesen. Fernsehen war immer mein eigentliches Talent, ich kann jeder Sendung etwas abgewinnen, das können nur ganz wenige, weil man für alles offen sein muß, wie ein Pfarrer, der sich jedem Mitglied seiner Gemeinde ganz persönlich widmet. Außerdem schaffe ich es, einen Abend lang den Überblick über das Programm von dreißig Sendern zu behalten, ohne daß mir ein einziger interessanter Moment entgeht, das verlangt Instinkt und Erfahrung. Menschen, die über mein Interesse am Fernsehen die Nase gerümpft haben, konnte ich nie verstehen, die waren doch einfach nicht neugierig. Trotzdem war es mir immer peinlich, fernzusehen, und ich habe bei Anrufen den Ton leise gestellt, eine der vielen Inkonsequenzen in meinem Leben.
    Es gab schöne Abende, wenn man das Soziale aufgegeben hatte und zu Hause geblieben war. Manchmal kam dann nachts ein alter amerikanischer Streifen über den Erfinder der Pons-Wörterbücher, mit Gary Cooper in der Hauptrolle, oder eine Zusammenstellung von Dalli-Dalli-Folgen, Gelegenheit, über die Veränderung der Welt zu staunen. Es war überhaupt immer das beste, wenn altes Fernsehen wiederholt wurde. Das ist genau wie mit der Zeitung, es heißt zwar: »Nichts ist so langweilig wie die Zeitung von gestern«, aber in Wirklichkeit ist es genau umgekehrt: »Nichts ist so langweilig wie die Zeitung von heute«. Dagegen ist die Zeitung von gestern eine faszinierende Lektüre und Fernsehen von gestern eine verstörende Erfahrung.
    Jetzt ist es abends ganz still in der Wohnung, weil ich mich gegen laute Nachbarn entschieden habe. Ich konnte mich nie damit anfreunden, mir vorzustellen, ich gehörte zu ihrer Familie und ihre Geräusche würden mir die beruhigende Botschaft zutragen, daß jemand zu Hause ist. Aber auch die Stimmen aus dem Apparat erklingen nicht mehr, die einem immer das Gefühl gaben, zur Welt zu gehören und einem großen Gespräch beizuwohnen. Wie gerne habe ich am Freitag abend diese Kochsendung geguckt, bei der am Ende das Publikum alles aufessen durfte, ach, ich hatte freitags nie etwas zu essen im Haus, der Einkaufsrhythmus ließ es nicht zu. Umso lieber sah ich die Kochsendung und freute mich, daß andere nicht hungrig blieben. Jetzt habe ich meine Fernsehsucht überwunden, und wenn ich auch noch auf Kaffee verzichte, bin ich in jeder Beziehung clean. Aber es ist traurig, daß die ganzen Sendungen nun von mir unbemerkt bleiben werden wie Scheintote, die metertief unter der Erde an ihren Sargdeckel klopfen. Das Fernsehen hat seinen besten Zuschauer verloren. Und ich glaube, es wird sich nie ganz davon erholen.
    Die Welt der Guermantes, S. 478–500
    Die Absencen häufen sich, auf der Treppe noch von Saint-Loups Gegenwart ausgelöste Erinnerungen an den Besuch in der Kaserne und auf der Straße im Nebel schon Combray-Gedanken. Ihn erfaßt bei solchen Wiederbegegnungen ein » Begeisterungsrausch «, der » wenn ich allein geblieben wäre, fruchtbar werden und mir den Umweg vieler unnützer Jahre hätte ersparen können, die ich so noch durchmessen mußte, bis die unsichtbare Berufung, deren Geschichte dies Werk hier ist, endlich deutlich wurde «. Er ist also schon nah daran gewesen, seine notorische Schreibblockade zu überwinden und zu erfahren, welches Werk er aus sich schöpfen könnte, ist aber noch einmal abgelenkt worden, weil Saint-Loup neben ihm im Wagen Platz genommen hat: » Die Ideen, die mich heimgesucht hatten, verflüchtigten sich jetzt rasch. Sie sind wie Göttinnen, die zuweilen geruhen, einem

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