Schmidts Einsicht
Danach ging alles ganz schnell. Er war der erste Mann, mit dem ich schlief. Dann kehrte Serge nach Paris zurück, und im Herbst fing ich am Radcliffe an. Serge war schon mit Solange verheiratet, sie war schon gelähmt, sie hatten die Kinder, er konnte es sich nicht leisten, mich häufig in Cambridge zu besuchen, selbst wenn er mit dem Gedanken gespielt hätte, und von Scheidung war nie die Rede. Ich habe wohl gewußt, daß das nicht in Frage kam. Und wenn ich wieder nach Paris gegangen wäre, wenn wir in derselben Stadt gelebt hätten, wäre ich bereit gewesen, weiter mit einem verheirateten Mann zusammenzusein? Ich glaube nicht. Ich war sehr unglücklich. Danach war ich mit dem einen oder anderen Harvard-Studenten liiert, aber das wurde nie etwas Ernstes. In Washington dann begegnete ich Tim, und nicht lang danach heirateten wir. Das weißt du ja.
Er nickte und sagte, liebe Alice, du mußt deine Suppe essen. Sie will heiß gegessen werden.
Die Bemerkung war so albern, daß sie beide laut loslachten.
Du weißt, daß Solanges Eltern sehr mondains , sehr gesellschaftsbewußt sind. In der Zeit, als Tim und ich nach Paris umzogen, gaben sie in ihrem Haus an der Rue deLille Empfänge in großem Stil. Hinter dem Haus ist ein riesiger Garten – eher ein kleiner Park –, und in der Sommersaison, in Paris ist das der Juni, machen sie immer ihr berühmtes Gartenfest. Le tout Paris , alle, die in der Stadt etwas gelten, sind da. Wie auch immer, wegen meiner Eltern standen auch Tim und ich auf der Gästeliste, und gleich als wir zum erstenmal zu einer dieser Partys gingen, lief ich natürlich Serge in die Arme. Schrecklich, nicht? Ich hatte ihn seit Washington nicht mehr gesehen und jahrelang nicht mehr an ihn gedacht. Er hat nie gesagt, daß er an mich gedacht habe. Aber er lud mich zum Lunch ein. Ich war damals in meiner Ehe schon ziemlich unglücklich. Seine bestand, seit Solange krank geworden war, eigentlich nur noch darin, daß er sie pflegte und die Jungen großzog. Wir machten nach dem Lunch sofort wieder da weiter, wo wir aufgehört hatten. Es dauerte nicht lang, bis wir regelmäßig zusammenkamen! Ich wollte mich nicht in Hotels mit ihm treffen – damals war ich viel anständiger! –, also mietete er ein Appartement in der Nähe des Verlags. Jetzt gehört es ihm. Er war sehr gut zu mir, Schmidtie. Daß er mir zu dem Job verhalf, ist nur ein Beispiel. Ohne ihn hätte der Verlag mich nie eingestellt. Aber wirklich wichtig für mich war sein emotionaler Beistand. Wenn Serge nicht gewesen wäre, hätte ich diese schrecklichen Jahre mit Tim und Bruno nicht überstanden.
Ach so, sagte Schmidt. Wenn ich richtig verstehe, fing das alles vor dem grauenvollen Sommer 85 an, bevor du herausgefunden hast, daß Tim schwul ist.
Sie zögerte.
Ja, antwortete sie dann, Tim hat sich nicht um mich gekümmert. Wir waren kaum je zusammen. Ich meine damit, er versuchte so gut wie nie, mit mir zu schlafen. Es war abscheulich.
Sie wischte sich je eine Träne aus den Augen.
Aber du hattest schon den Verdacht, daß er schwul sein könnte?
Ja und nein. Serge erzählte mir, daß Bruno diesen Ruf habe, und ich brachte Tims geringes Interesse an mir allmählich in Zusammenhang damit, aber ich hatte vor dem Sommer keinen Beweis. Das wird dir seltsam vorkommen. Aber bis dahin war ich noch nie jemandem begegnet, von dem ich wußte, daß er homosexuell war.
Dieser Lew Brenner hat tatsächlich ins Schwarze getroffen, dachte Schmidt, aber ist es wirklich wichtig, wann sie es gemerkt hat? Das Ganze ist so blöd.
Schmidtie, bitte versuch dir vorzustellen, wie sehr ich jemanden zum Anlehnen gebraucht habe!
Das verstehe ich, ich verstehe es sehr gut.
Er sagte die Wahrheit. Eine wichtigere Frage beschäftigte ihn noch, und er beschloß, Alice damit zu konfrontieren.
Eins verstehe ich nicht, Alice, sagte er. Wo komme ich ins Spiel? Du bist noch mit Popov zusammen. Das ist mir klar, und du bestreitest es nicht. Warum hast du mit mir geschlafen, als ich nach Paris kam? Warum das erste und warum das zweite Mal? Warum hast du dagesessen und mich sagen lassen, daß ich dich liebe und dich heiraten möchte – diese Worte habe ich benutzt –, warum hast du mich immer so weitermachen lassen? Und warum hast du mich zu diesem absurden Lunch mit Popov eingeladen? Warum hast du mir nicht erzählt, daß du mit diesem Mann in die USA kommen würdest? Und warum bist du überhaupt hier?
Sie wischte sich wieder Tränen ab und antwortete dann: Schmidtie, das
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