Schmusekatze, jung, ledig, sucht
versuchte, möglichst tief durchzuatmen.
Um kurz nach neun waren sie am Ziel angekommen, Chrissy bezahlte für die Fahrt, stieg aus und ging in das Bürogebäude schräg gegenüber vom Bahnhof, das auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sie wusste noch von früher, dass sich im Erdgeschoss auf der linken Seite einmal ein Zeitungsladen mit internationaler Presse und auf der rechten Seite ein kleines Café mit nur ein paar Tischen befunden hatte. Zu der Zeit hatte sich das Gebäude auch als Ärztehaus etablieren können, woran sich bis heute nichts geändert hatte – nur dass die Patienten inzwischen im Parterre die Wahl zwischen einem Wettbüro und einem Pornokino mit »Full Service« hatten, wobei Chrissy lieber nicht darüber nachdenken wollte, wie das wohl zu verstehen war.
In der Praxis angekommen, fand Chrissy ihre Vermutung bestätigt : Telefonisch hätte man sie abgewiesen und auf den nächsten Tag geschoben, aber jetzt, da sie nun mal hier war, wurde sie ins Wartezimmer geschickt, allerdings begleitet von der Warnung, es könne einige Minuten dauern, ehe sie an der Reihe sei, weil noch ein paar Patienten vor ihr dran waren.
»Einige Minuten« entpuppte sich als eine mehr als dreiste Untertreibung, aber sie war nicht in der Stimmung, sich zu beschweren, zumal sie nicht wusste, ob man sie dann noch länger würde warten lassen. Zumindest waren das die Gründe, die sie noch nach einer Stunde davon abhielten, von dem viel zu harten Stuhl aufzustehen und nach vorn zu gehen. Als sich aber nach einer weiteren halben Stunde das mittlerweile geleerte Wartezimmer erneut zu füllen begann, wurde es ihr zu viel. Auch wenn sie keinen Termin hatte, sollte es doch möglich gewesen sein, sie in der Zwischenzeit ins Sprechzimmer zu schicken, ohne dass ein anderer Patient sich darüber beschweren konnte, dass sie zwischendurch behandelt wurde.
Am Empfang saß jetzt die Kollegin der Helferin, die sich bei Chrissys Ankunft um sie gekümmert hatte.
»Hallo, Frau Rodenberg«, brachte sie, nach Luft ringend, heraus. »Können Sie mir sagen, wie lange ich noch warten muss? Ich fühle mich wirklich mies und würde mich liebend gern in mein Bett legen und mir die Decke über den Kopf ziehen.«
Die junge Frau mit den rosa gefärbten und mit Gel zu Stacheln geformten Haaren, die sie wie eine Figur aus einem Manga aussehen ließ, schaute Chrissy verwundert an : »Frau Hansen? Wo kommen Sie denn her?«
»Aus dem Wartezimmer, wo ich bereits Staub a n gesetzt habe.«
»Ähm … aber wieso sind Sie hier? Haben Sie sich denn nicht angemeldet?«
Nach einer weiteren Niesattacke antwortete sie schniefend : »Natürlich habe ich mich angemeldet. Frau Meiß hat von mir die Praxisgebühr kassiert und meine Karte eingelesen.«
»Oh, dann müssen Sie das bitte entschuldigen«, sagte die junge Helferin. »Aber meine Kollegin hat heute Morgen von Dr. Kalkowski bestätigt bekommen, dass sie schwanger ist, und seitdem steht sie die meiste Zeit neben sich. Dr. Silberbauer hat ihr bereits nahegelegt, sich den Rest des Tages freizunehmen, aber davon will sie nichts wissen. Deshalb laufe ich schon den ganzen Morgen hinter ihr her, um alles wieder in Ordnung zu bringen, was sie hier veranstaltet. Wenigstens war sie heute früh nicht da, und ich konnte mich allein um die Blutabnahmen kümmern. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was da für Ergebnisse herausgekommen wären, wenn sie das erledigt hätte.« Sie sah an Chrissy vorbei in Richtung Sprechzimmer. Die Tür stand offen, der Raum war leer. »Gehen Sie schon mal rein, ich bringe gleich Ihre Akte – sofern meine Kollegin die nicht in den Beutel mit den Blutproben gepackt und dem Boten mitgegeben hat«, ergänzte sie mit einem ironischen Lächeln. »Ich bin nur froh, dass heute Mittwoch ist und der Spuk gegen Mittag erst mal ein Ende hat.«
»Danke«, schniefte Chrissy und ging ins Sprechzimmer. Kaum hatte sie Platz genommen, brachte die Helferin die Akte und legte sie auf den Tisch. Zu ihrer Erleichterung vergingen danach nur wenig mehr als fünf Minuten, dann betrat Dr. Silberbauer den Raum. Sie würde sich vermutlich nie daran gewöhnen, dass sie bei seinem Namen an diesen Schauspieler dachte, dem ihr Arzt aber in schlichtweg keiner Hinsicht ähnlich war. Dieser Mann hier war noch einen halben Kopf kleiner als sie, er hatte ein paar Kilo zu viel auf den Rippen, seine dunklen Haare waren leicht lockig, an den Seiten und im Nacken trug er sie extrem kurz geschnitten. Auf seiner Nase saß
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