Schnappschuss
ohne zu einem vernünftigen Ende zu kommen. Nun sah sie ihn bei Pressekonferenzen und bei solchen Gelegenheiten wie dieser hier, und dann tauschten sie Informationen aus.
Tessa fragte sich, auch wenn das nicht mehr von Bedeutung war, ob er sich endlich von seiner Frau abgenabelt hatte. Angela Challis war tot, aber das hieß nicht, dass sie auch in Challis’ Herzen gestorben war. Damals war das eine Riesenstory gewesen: Challis’ Frau hatte eine Affäre mit einem anderen Polizisten, und die beiden hatten Challis eines Nachts zu einem einsamen Treffen in eine abgelegene Straße gelockt, um ihn dort zu ermorden. Der Versuch war gescheitert, und Challis’ Frau war wegen Verschwörung zum Mord verurteilt worden. Statt sich von ihr scheiden zu lassen, hatte sich Challis auf irgendeine unerklärliche Art verantwortlich gefühlt, so als habe er Angela im Stich gelassen und sie zu dieser drastischen Tat getrieben. Nach und nach verging seine Liebe zu ihr – sagte er jedenfalls –, aber noch jahrelang durfte sie ihn aus dem Gefängnis anrufen und schreiben und sich Schuld und Bedauern von der Seele reden. »Schau nach vorn, Hal«, hatten alle zu ihm gesagt, auch Tessa, aber das hatte er nicht getan, und wann immer sie mit ihm zusammen war, hatte er distanziert und traurig gewirkt.
Letztes Jahr dann hatte Angela Challis im Gefängniskrankenhaus Selbstmord begangen. Tessa hatte frischen Mut geschöpft. Sie hatte Challis nicht gedrängt, war nicht vor Freude aufgesprungen, war geduldig, freundlich und mitfühlend geblieben. Und was hatte das gebracht? Nichts. Challis hatte sich noch weiter distanziert, so als seien die Schuldgefühle nicht gewichen, sondern nur noch stärker geworden. Schließlich traf Tessa sich nicht mehr mit ihm, wartete nicht länger, doch eine ganze Weile hatte sie einen dauernden Schmerz, halb Verlust, halb Leere, deswegen empfunden.
Tessa hatte schon gewusst, dass Hal sich mit der Situation abmühte. Als sie noch miteinander schliefen, war Challis viel zu oft gleich darauf oder am nächsten Morgen nach Hause geeilt, so als müsse er einen klaren Kopf behalten. Er schien sie zu wollen, dann wieder wurde es ihm zu eng, was sich durch den Wunsch, sie nicht zu verletzen oder ihr falsche Hoffnungen zu machen, nur noch verstärkte.
So weit jedenfalls hatte sich Tessa das alles zusammengereimt. All dies ging ihr in der Zeitspanne durch den Kopf, die Challis brauchte, um sie zu entdecken, zu lächeln, den Raum zu durchqueren und ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Challis nahm sich einen Stuhl und setzte sich. Ihre Knie berührten sich. Fast automatisch rutschten sie höflich auseinander.
»Was für ein Privileg«, sagte Tessa, »ein morgendlicher Mokka mit dir in einem angesagten Café.«
»So angesagt, wie es in Waterloo nur sein kann, zumindest.«
Sie sah ihm ins Gesicht. »Du siehst müde aus.«
»Eine üble Geschichte«, sagte er und berichtete ihr alles, was er wusste. Tessa machte sich Notizen und versuchte sich nicht ablenken zu lassen, als sein Jackenärmel etwas hochrutschte, ein knochiges Handgelenk freigab und einen Zentimeter strahlendweißen Hemdsärmel. Normalerweise hasste sie weiße Hemden, aber zu Challis’ drahtiger Gestalt und der olivbraunen Haut passten sie.
»Und was jetzt?«
»Wir werden mit dem Kind sprechen.«
»Könnte ich das auch?«
»McQuarrie würde das nie erlauben«, antwortete Challis müde. »Sie ist zu jung, und er kann dich nicht leiden.«
Sie lächelte reuevoll. McQuarrie hatte Freunde im Rotary Club, örtliche Geschäftsleute, die keine linksgerichtete Lokalzeitung mit einer Frau an der Spitze wollten.
»Du wirst mich auf dem Laufenden halten, oder, Hal?«
Er nickte.
»Aber natürlich könnte der Fall heute Nachmittag aufgeklärt sein«, murmelte Tessa, »dann ist die Story nächste Woche um diese Zeit schon alt und für mich sowieso unbrauchbar.«
Challis grinste sie verschmitzt an. »Na, dann schreib doch noch so eine Story wie die über die ordentlichen, gut geführten Vorstadtorgien, da gibt es doch keine Zeitvorgabe.«
»Ja, ja, mach du dich nur lustig.«
»Die Leute schauen mich komisch süffisant an«, sagte Challis, »so als ob wir immer noch zusammen wären und ständig schräge Sexspielchen treiben würden.«
»Du Ärmster«, sagte sie und sah ihn herausfordernd an. »Willst du mich denn nicht fragen, wie es war?«
Challis schüttelte den Kopf. »In deinem Artikel stand doch schon alles. Abgesehen von einem leichten Nervenkitzel hat er
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