Schneckle im Elchtest
letzten Jahren um sechs Konfektionsgrößen geschrumpft oder jemand wollte ihr eins reinwürgen und hatte sie gezwungen, dieses Zelt anzuziehen. Derart verunstaltet saß sie nun verwirrt neben den Teenager-Gören und blickte gehetzt in die Runde. Ihre rechte Hand, die sie immer wieder aus einem viel zu langen Ärmel schüttelte, hielt sie zur Muschel geformt an ihr Ohr. Leider machte sie nicht den Eindruck, als ob sie deshalb irgendetwas von den Geschehnissen um sie herum aufschnappen konnte.
»Martina, hallo! Meine Güte, die wird immer tauber!«, brüllte Steve zuerst in ihre, dann in meine Richtung. Er legte noch ein paar Dezibel drauf und ergänzte: »Ich bin’s, Steve!!! Und das ist Sabiiiine! Wir werden hei-ra-ten!«, trompetete er und zog mich mit zu der Dörrpflaume hin.
Die war herzlich wenig überrascht und winkte ab: »Ja, ja. Natürlich. Wir sind ja alle wegen der Hochzeit hier, mein lieber Junge. Wann findet sie statt? Morgen schon? Um wie viel Uhr denn?« Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich befürchte, dass ich gar kein Geschenk für dich dabeihabe.«
Plötzlich hellte sich ihre Miene auf: »Nehmt ihr auch einen Gutschein?«
Steve nickte ergeben.
Martina freute sich wie eine Schneekönigin, schüttelte die Ärmel zurück und klatschte ein paar Mal in die Hände. »Schön, schön. Ich gebe dir den Gutschein dann morgen.« Sie strahlte Steve an und tätschelte mit ihrer Gichtkralle seine Hand. »Groß bist du geworden. Ja, ja, groß. Von wem hast du eigentlich deine Haarfarbe? Von Hartmut nicht, der war früher schwarzhaarig und färbt es immer noch so. Die merkwürdigen Haare hast du also von deiner Mutter ... Aber warum läuft die junge Dame da auch so herum? War sie beim Friseur, weil sie so aussehen wollte wie du? Oder hatte der nur noch die Farbe?«
Leider musste sie ihren Redefluss an der Stelle unterbrechen, weil ihr ohnehin bei jedem Wort wackelndes Gebiss aus dem Mund zu rutschen drohte. Sie musste mindestens dreihundert Jahre alt sein.
Anscheinend initiierte meine Vermutung eine Gedankenübertragung, denn kaum hatte sie ihr Gebiss wieder an Ort und Stelle verfrachtet, spekulierte sie: »Du musst die liebe Schandtal sein.« Sie erweiterte ihr Strahlen nun in meine Richtung und streckte mir eine Kralle entgegen. »Ich habe ja schon so viel von dir gehört. So ein liebes Mädchen bist du, so ein liebes.« Sie nickte zufrieden vor sich hin. »Hast unserem Steve endlich einen sicheren Arbeitsplatz verschafft. Nachdem der in Afrika in so schlechte Gesellschaft geraten war.« Betrübt schüttelte sie den Kopf, der dabei bis zum Mund im Kleid verschwand.
Steve murmelte: »Mallorca, Martina, es war Mallorca, nicht Afrika ...«
Doch Martina fuhr ungerührt fort: »Wir haben uns immer solche Sorgen gemacht, wenn er aus seiner Wohnung geworfen wurde. Und dann der viele Ärger mit der Polizei. Und die vielen Verhaftungen ...«
Während ich sie konsterniert anstarrte, nickte sie betroffen und seufzte tief. Fragend starrte ich in Steves Richtung, der allerdings in dem Moment etwas Hochinteressantes auf dem Boden entdeckt hatte.
Martina fuhr derweil unbeirrt gebisswackelnd fort: »Ja, ja, liebe Schandtal. Und nicht nur für Steve hast du so viel getan! Was meinst du, wie sehr sich auch die Edith freut, dass sie endlich mit dem schrecklichen Gesinge aufhören kann! Das wollte ja niemals irgendjemand hören!« Sie beugte sich vertraulich zu mir: »Ich übrigens auch nicht. Sie singt grauenvoll. Ganz schrecklich. Wenn sie singt, erinnert mich das immer an den furchtbaren ABC-Alarm aus dem Krieg. Jedes Mal habe ich danach wochenlang Kopfschmerzen. Entsetzlich.« Sie richtete sich wieder auf. »Aber dank dir, liebes Mädchen, bekommt sie nun zum ersten Mal im Leben eine richtige Arbeit. Als Sekretärin. Das finde ich ganz, ganz wunderbar. Keiner von uns hätte das noch geglaubt. Grüße ihn doch bitte, deinen lieben, lieben Vater und übermittle ihm unseren herzlichen Dank!« Wieder musste das Gebiss zurückgeschoben werden. So viel Enthusiasmus war es anscheinend nicht gewohnt. Sie fuhr mit Tränen in den Augen fort: »Unseren ganz herzlichen! Die ganze Familie steht tief in seiner Schuld. Edith hört auf zu singen ...« Da ich auf ihren Dank und die tollen Neuigkeiten nicht reagierte, fuhr sie eifrig fort: »Danke natürlich auch dafür, dass dein Vater die Praktikumsstelle für Peter und Paul vermittelt hat. Für Peter und Paul. So ein netter Mensch. Und du, du bist so ein liebes Mädchen. Nur
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