Schnee in Venedig
Altar stehen.
«Sie dürfen Platz nehmen, Conte.»
Kommt das zu schnell – ihre Aufforderung an den Conte, sich ebenfalls zu setzen? Oder wäre es besser gewesen, ihn noch ein wenig warten zu lassen? Aber dann hätte er
von oben herab
zu ihr gesprochen – ein Ding der Unmöglichkeit.
Der Conte hat den Stuhl, der neben ihrem steht, ein wenig abgerückt. Jetzt sitzt er ihr in zwei Schritten Entfernung gegenüber, in lockerer und zugleich korrekter Haltung – nicht steif wie der verklemmte Toggenburg, aber aufrecht genug, um ihr den Respekt zu bezeugen, den sie dringend benötigt.
«Ich habe Sie hierher bitten lassen, weil ich …» Sie hält inne.
Weil ich die Hofburg hasse und mir allein schon der Gedanke, nach Wien zurückzukehren, Kopfschmerzen bereitet? Und weil ich die Geschichte, mit der mich Toggenburg aus Venedig vertreiben will, nicht glaube?
Nein – so geht das nicht.
Sie nimmt noch einen Schluck aus ihrem Glas und stellt fest, dass der Champagner sie auf angenehme Weise entspannt.
«Ich weiß, wer den Hofrat und das Mädchen ermordet hat», sagt Elisabeth einfach. «Am besten, Sie hören mir erst einmal zu und stellen Ihre Fragen danach.»
Sie braucht eine halbe Stunde, um ihre Geschichte zu erzählen. Als sie fertig ist, fällt ihr ein, dass sie kein einziges Mal den Namen des Mannes erwähnt hat, um den es ging. Das war ein Fehler, also holt sie es nach.
47
Zuerst dachte Tron, er hätte sich verhört. «Sagten Sie
Haslinger
, Kaiserliche Hoheit?»
Elisabeth nickte. «Oberst Pergen hat Haslinger jedes Mal gedeckt. In der Gambarare-Affäre und dann, als diese Sache in Wien passierte.»
«Warum hat er ihn gedeckt?»
«Haslinger und Pergen waren zusammen auf der Grazer Kadettenanstalt. Vielleicht war Pergen Haslinger irgendeinen Gefallen schuldig.» Elisabeth zuckte die Achseln. «Aber diesmal scheint Pergen nicht nur aus alter Freundschaft gehandelt zu haben, sondern weil Haslinger ihn erpresst hat. Haslinger hat dem Oberst gedroht, die Papiere aus der Kabine des Hofrats dem Stadtkommandanten zu übergeben. So hat es dieser Ennemoser auf dem Flur verstanden.»
Tron stand auf und ging mit steifen Schritten auf das Fenster der Kapelle zu. Der Fußboden hatte sich im Laufe der Jahrhunderte zum Rio Tron hin gesenkt, doch jetzt kam es ihm vor, als würde er steil nach unten laufen. Im Ballsaal erklangein Walzer, und einen Augenblick lang war die Melodie so deutlich zu hören, als würden die Musiker direkt nebenan im Gobelinzimmer spielen. Tron ging zum Altar zurück. Er setzte sich und erzählte der Kaiserin, was er wusste.
Als er fertig war, sagte Elisabeth: «Also haben Sie auch nicht an das Attentat geglaubt.»
Tron schüttelte den Kopf. «Ich hatte anfangs Leutnant Grillparzer im Verdacht. Und später Pater Tommaseo.»
«Was werden Sie jetzt unternehmen?»
«Ich
darf
nichts unternehmen», sagte Tron. «Spaur suspendiert mich, wenn ich weiter an dem Fall arbeite. Und im Moosbrugger-Mord ermittelt die Militärpolizei, weil das Lloydpersonal zur Marine zählt.»
«Also ist der Fall für Sie abgeschlossen.»
«Es sieht ganz danach aus.»
«Ennemoser sagt, dass Pergen intensiv nach den Unterlagen fahndet. Der Oberst hält es offenbar für möglich, dass Haslinger die Unterlagen gar nicht hat.»
Tron nickte. «Ich weiß. Das war auch der Grund für seinen Besuch bei Ballani.»
«Ist Ihnen klar, Commissario, was dann passiert, wenn Oberst Pergen diese Unterlagen tatsächlich aufstöbert?»
«Dann kann Haslinger ihn nicht mehr damit bluffen.»
«Richtig. Und wenn dieser Fall eintritt, wird sich Haslinger von Pergen bedroht fühlen. Und wenn Haslinger sich bedroht fühlt, geht er kein Risiko ein. Das wissen wir inzwischen.»
Tron runzelte die Stirn. «Wollen Sie damit andeuten, Haslinger könnte Pergen …?»
«Nicht
könnte
, Commissario. Er
wird
es tun. Haslinger hat den Steward getötet, weil der wusste, was auf dem Schiff geschehen war. Er hat die Frau in Triest getötet, um Moosbruggers Aufzeichnungen an sich zu bringen. Wenn Haslingerweiß, dass er Pergen nicht mehr kontrollieren kann, wird er ihn ebenfalls umbringen.» Elisabeth stieß mit ihrem Fächer in das Halbdunkel, in dem Tron saß, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. «Man würde es für einen politischen Mord halten. Kein Mensch würde auf den Gedanken kommen, dass es Haslinger war, der Pergen getötet hat.»
«Mit anderen Worten: Wenn Pergen die Unterlagen findet, ist er ein toter Mann.»
Elisabeth nickte.
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