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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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lächelte. «Kaiserliche Hoheit überfordern mein Vorstellungsvermögen.»
    Aber die Kaiserin blieb ernst. «Wie nahe müssten Sie mir kommen, damit sich Ihr Gesicht auf meiner Netzhaut abbildet?»
    «Wahrscheinlich näher als einen halben Meter. Aber ich müsste zugleich ausreichend Licht im Gesicht haben», sagte Tron.
    «Und würde das Licht einer Kerze ausreichen, um Ihr Gesicht auf meiner Netzhaut abbilden zu lassen?»
    «Möglicherweise.»
    «Dann halten Sie eine Kerze neben Ihr Gesicht und kommen Sie näher.»
    Tron stand auf und nahm eine Kerze vom Altar. Er trat vor die Kaiserin und bückte sich. Die Kaiserin hatte sich nach vorne geneigt, ihren Kopf zurückgelegt und blickte ihn erwartungsvoll an.
    «Und nun? Was sehen Sie in meinen Augen? Sehen Sie Ihr Bild?»
    Tron schüttelte den Kopf. «Ich bin zu weit weg, Kaiserliche Hoheit.»
    «Dann kommen Sie näher.»
    Tron beugte sich noch ein Stückchen herab. Da er befürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren, sank er auf die Knie. Er beugte sich nach vorne und reckte sein Gesicht dem Gesicht der Kaiserin entgegen.
    «Erkennen Sie jetzt Ihr Gesicht, Conte?»
    Aber selbst aus zwanzig Zentimeter Entfernung konnte Tron sein Gesicht in den Augen der Kaiserin nicht erkennen. Er sah die Iris und die Pupille der Kaiserin, eingefasst vom Weiß ihrer Augen, und auf der Pupille den Reflex der Kerze, die er in der rechten Hand hielt, aber er sah kein Gesicht. Er schob sich noch ein Stück nach vorne. FünfzehnZentimeter und immer noch kein Gesicht. Doch! Jetzt! Etwas Rundes, Gewölbtes mit zwei kleinen Schatten im unteren Teil der Wölbung tauchte in der Pupille der Kaiserin auf. Tron brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass er seine von der Rundung ihrer Pupille grotesk verformte Nase erblickte. Und dann sah er auch den Rest seines Gesichts – ebenfalls absurd verzerrt auf der Oberfläche dieses kleinen runden Spiegels   –, eine wulstige Stirn, hervorquellende Augen und dicke, aufgedunsene Lippen. Tron fand, er sah aus wie ein Karpfen.
    Inzwischen war sein Gesicht höchstens noch zehn Zentimeter von dem Gesicht der Kaiserin entfernt. Er konnte den nach Veilchensorbet duftenden kaiserlichen Atem riechen, und einen Augenblick lang bildete er sich ein, ihren Herzschlag zu hören. Großer Gott, dachte Tron entsetzt, jeder, der in diesem Augenblick die Kapelle betrat, müsste den Eindruck haben, er und die Kaiserin wären gerade dabei   …
    «Alvise?»
    Die Stimme kam von der Kapellentür, und sie war so scharf wie ein Peitschenknall.

48
    «Störe ich euch, Alvise?» Die Contessa räusperte sich anzüglich.
    Tron erhob sich, wobei er sich Mühe gab, die Kaiserin mit seinem Körper zu verdecken. «Wir waren gerade bei einem wissenschaftlichen Experiment», sagte er. «Es geht um Spiegelungen auf der Pupille, die sich einbrennen, wenn   …» Er brach ab. Es war sinnlos, der Contessa den Vorgangzu erklären. Das Abbild des Mörders auf der Netzhaut des Toten! Die Geschichte war zu absurd, um auch nur damit anzufangen.
    Die Contessa machte zwei Schritte in Richtung Altar, dann blieb sie stehen. Tron sah, dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
    «Ein Experiment mit Spiegelungen auf der Pupille?» Die Contessa warf Tron einen verständnislosen Blick zu.
    Die Konvention erforderte, dass er die Damen miteinander bekannt machte. Aber konnte er der Kaiserin die Contessa vorstellen? Nein – dazu hätte er das Inkognito der Kaiserin lüften müssen, und das durfte nur sie selber. Und konnte er die Gräfin Hohenembs mit der Contessa bekannt machen? Nein – das war ebenso unmöglich, denn es war damit zu rechnen, dass die Contessa die Kaiserin erkennen würde. Tron merkte, wie er anfing zu schwitzen.
    Es war die Kaiserin, die ihn erlöste, indem sie aufstand (er konnte das Rascheln ihres Kleides hören) und neben ihn trat. Aus den Augenwinkeln sah Tron, dass sie darauf verzichtet hatte, ihre Maske wieder aufzusetzen. Als sie sprach, klang ihre Stimme überraschend gelassen.
    «Es tut mir Leid, Contessa», sagte die Kaiserin, «dass ich Sie vorhin verpasst habe.»
    Das war nicht ganz korrekt, denn die Kaiserin hatte nicht die geringsten Anstrengungen unternommen, die Contessa im Getümmel der Gäste ausfindig zu machen.
    «Wenn ich den Conte von seinen Gastgeberpflichten abgehalten habe», fuhr die Kaiserin fort, «dann bitte ich um Nachsicht.»
    Die Contessa blickte die Kaiserin an – aus einer Entfernung, die höchstens zwei Meter betrug. Tron konnte hören,

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