Schnee in Venedig
Altar stand, als Tron die Kapelle betrat, und das Licht der Kerzen von hinten auf sie fiel, lag das Gesicht der Gräfin Hohenembs im Schatten. Als Tron sie ein paar Sekunden später identifizierte (seine Augen hatten sich an das matte Kerzenlicht gewöhnt), dachte er:
Das glaube ich nicht.
Er nahm seinen Kneifer ab (er war überzeugt davon, ohne Kneifer kühner und männlicher auszusehen) und stärkte sich mit einem strengen Schlucken, als er auf sie zuging.
Die Gräfin war immer noch maskiert, aber es bestand kein Zweifel daran, dass sie lächelte, denn ihre Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen. Es bestand ebenfalls kein Zweifel daran, dass es sich um die junge Frau handelte, der er vor einigen Minuten vergeblich nachgelaufen war.
Tron verbeugte sich. «Gräfin Hohenembs?»
Die Gräfin nickte. Ihre Mundwinkel unter der Maske hoben sich ein Stück weiter. Aus zwei Schritten Entfernung wirkte sie noch attraktiver als von der anderen Seite des Ballsaales. Tron schätzte sie auf fünfundzwanzig, höchstens dreißig. Sie machte keine Anstalten, ihre Maske abzunehmen.
Tron trat einen Schritt näher und zog ihre Hand an seinen Mund. Dann sagte er auf Deutsch: «Ich wollte Sie zum Tanzen auffordern, aber als ich auf Ihrer Seite der Tanzfläche angelangt war, da waren Sie verschwunden. Das tut mir Leid.»
«Warum tut es Ihnen Leid, Conte?»
«Weil Sie offenbar die Absicht hatten, mit mir zu tanzen.»
«Wie kommen Sie darauf, dass ich mit Ihnen tanzen wollte?» Das Erstaunen in ihrer Stimme war echt. Sie sprach keinen Wiener Dialekt, vermutlich kam sie nicht einmal aus Österreich.
«Ihr Fächer», sagte Tron.
«Mein Fächer?»
«Sie haben Ihren geöffneten Fächer zu sich hinbewegt und mich dabei angesehen. Das heißt: Tanzen Sie mit mir.»
«Das wusste ich nicht. Das muss ein Zufall gewesen sein.»
«Hätten Sie mich abgewiesen, wenn ich Sie aufgefordert hätte?»
Anstelle einer Antwort lachte die Gräfin. «Ich wusste gar nicht, dass Sie auf Ihren Bällen Walzer tanzen», sagte sie etwas zusammenhanglos.
«Was dachten Sie, was wir hier tanzen würden?»
«Kontertänze. Menuette. Sarabanden.»
Tron lächelte. «Wir schreiben das Jahr 1862. Es gibt seit fast zehn Jahren eine Gasbeleuchtung auf der Piazza. Die Zeit vergeht vielleicht langsamer bei uns, aber sie steht nicht still. Sind Sie jetzt enttäuscht?»
Die Gräfin schüttelte den Kopf. «Nein. Aber eigentlich wollte ich mit Ihnen nicht über Walzer reden.»
«Ich weiß. Es geht um den Lloydfall. Sie hätten auch in mein Büro auf der Questura kommen können.»
«Ich wollte keine Zeit verlieren.»
«Das hört sich dramatisch an.» Tron lächelte. «Darf ich Ihnen vorher eine Frage stellen, Gräfin?»
«Fragen Sie, Conte.»
«Warum tragen Sie diese Maske? Ich kenne jetzt ja Ihren Namen. Es ergibt keinen Sinn, maskiert zu bleiben.»
«Ohne diese Maske wäre ich nicht hier.»
«Alle Gäste sind maskiert. Aber diese Unterredung ist kein Teil des Maskenballs. Und außerdem …»
«Und außerdem?»
«… würde ich gerne Ihr Gesicht sehen.»
«Und warum?»
Tron lächelte. «Weil ich glaube, dass Sie es nicht verstecken müssen.»
Er sah, wie sich der Mund der Gräfin öffnete, einen Augenblick lang geöffnet blieb und sich wieder schloss. Ihre Lippen, die jetzt zu schmalen Strichen zusammengepresst waren, begannen zu vibrieren. Sie stieß kleine, dumpfe Laute aus, die wie
Uuhhm
oder
Mhhhm
klangen.
Zuerst dachte Tron, die Gräfin hätte sich verschluckt. Dann dachte er entsetzt, sein Kompliment wäre zu weit gegangen und die
Mhhhms
und
Uuhhms
der Gräfin würden ihre Empörung zum Ausdruck bringen.
Schließlich begriff er, dass die Gräfin lachte. Sie lachte immer noch, als sie die Bänder in ihrem Nacken löste und die Maske abnahm.
46
Elisabeth wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass der Commissario sie nicht erkennen könnte. Aber jetzt starrt er sie mit gerunzelter Stirn an, und es ist ganz offensichtlich, dass er nicht weiß, wen er vor sich hat. Der Commissario ist ein mittelgroßer, schlanker Mann mit dünnen blonden Haaren und Lachfältchen neben den Augen, mit denen er sie jetzt irritiert anblickt. Er sieht harmlos und verlegen aus, findet Elisabeth – verlegen, weil er vielleicht kurz davor ist, sie zu erkennen. Das überrascht sie nicht. Die meisten Leute, denen sie begegnet, werden verlegen.
Elisabeth räuspert sich. «Conte?»
«Ja?»
«Würden Sie die Güte haben, mich aufmerksam zu betrachten?»
«Das tue ich
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