Schnee in Venedig
wie seine Mutter einen tiefen Atemzug machte. Sie beugte das rechte Knie wie ein junges Mädchen, raffte mit der linkenHand ihr Kleid nach oben und neigte den Kopf. Dann sagte sie – und ihr hartes böhmisches Deutsch klang nicht im Mindesten aufgeregt: «Dass Kaiserliche Hoheit eine Unterredung mit dem Conte hatten, wusste ich nicht.»
Würdevoll verneigte sie sich ein zweites Mal und ging langsam, ohne sich umzudrehen – also rückwärts –, mit kleinen, vorsichtigen Schritten und leicht nach vorne gebeugtem Oberkörper zur Tür. Hätte es sich um eine Audienz in der Hofburg gehandelt, wäre es ein perfekter, dem Hofprotokoll entsprechender Abgang gewesen. Aber hier, wo kein Lakai bereitstand, um der Contessa die Tür zu öffnen, ergab sich ein Problem: Kurz vor der Tür würde sie gezwungen sein, der Kaiserin den Rücken zuzukehren. Tron sah, wie die Schritte der Contessa zögernder wurden. Auch der Kaiserin war das Dilemma der Contessa nicht entgangen.
«Einen Moment noch, Contessa», sagte sie. Die Kaiserin hatte ihre Maske wieder aufgesetzt und sich in die Gräfin Hohenembs zurückverwandelt. «Von dem Gespräch», fuhr sie fort, «das ich mit dem Conte geführt habe, darf niemand etwas erfahren. Das Einzige, was Sie wissen dürfen, ist, dass heute Abend eine Gräfin Hohenembs in Begleitung der Königseggs an Ihrem Ball teilgenommen hat.» Sie machte einen halben Schritt nach vorne und blieb wieder stehen. «Und Sie, Conte, hatten mir etwas in Aussicht gestellt.»
Wieder sah Tron den Blick der Maske auf sich gerichtet, aus Augen, in denen es kurz aufblitzte, als der Schein der Kerze auf sie fiel. Die Kaiserin lächelte. Einen Moment lang wusste Tron nicht, was sie damit sagen wollte, doch dann fiel es ihm ein. Er sagte: «Als ich die Absicht hatte, Kaiserliche Hoheit zum Tanz aufzufordern, wusste ich nicht, wen ich vor mir hatte.»
«Soll das bedeuten, dass Sie einen Rückzieher machen, Conte?» Die Kaiserin schob ihre Unterlippe nach vorne. IhreMaske hob sich ein wenig – vermutlich weil die im Unmut emporgezogenen Augenbrauen sie nach oben drückten.
Tron verneigte sich. Er sagte: «Ich würde nie im Traum daran denken, Kaiserliche Hoheit zu kompromittieren.»
Tron sah, wie sich der kaiserliche Mund entspannte. Eigentlich hatte das, was er geäußert hatte, bedeuten sollen, dass er es nie gewagt haben würde, eine Kaiserin zum Tanz aufzufordern. Aber die Kaiserin zog es offenbar vor, das Gegenteil zu verstehen, nämlich dass er es nicht wagen würde, ihre – indirekte – Bitte, sie zum Tanz aufzufordern, zurückzuweisen.
Sie sagte: «Worauf warten Sie dann noch, Conte?»
In diesem Augenblick setzte die Musik wieder ein – sie war irgendwann im Laufe des Gesprächs verstummt, ohne dass Tron es bemerkt hatte. Es war derselbe Walzer, den sie am Anfang ihrer Unterredung durch die geschlossene Tür gehört hatten. Die Musik war nicht lauter als zu dem Zeitpunkt, als er die Kapellentür hinter sich geschlossen hatte, um zu erfahren, was die angebliche Gräfin Hohenembs ihm zu sagen hatte. Aber jetzt, da niemand in der Kapelle sprach, war jeder einzelne Ton der Musik deutlich zu vernehmen.
Tron verbeugte sich und sagte: «Dann … bitte ich um den Tanz, Kaiserliche Hoheit.»
Er war vor seiner Verbeugung einen halben Schritt nach links getreten und hatte sich dann nach rechts gedreht, um sich in eine halbwegs frontale Position zu bringen. Als er seine Bitte ausgesprochen hatte, richtete er sich auf und blickte die Kaiserin an, aber die reagierte nicht. Sie ließ vier oder fünf Sekunden verstreichen, Sekunden, in denen die unsichtbaren Augen unter der Maske ihn musterten (das nahm er jedenfalls an) und in denen er sich bereits fragte, ob er irgendetwas falsch gemacht hatte. Doch dann, als Tron begriff, dass die Kaiserin sich lediglich Zeit genommen hatte,diesen Satz, den sie vielleicht lange nicht mehr gehört hatte, in ihr Gedächtnis aufzunehmen, sagte sie:
«Ihren Arm, Conte.»
Tron streckte ihr seinen Arm entgegen, und die Kaiserin hängte sich lachend ein.
49
Als sie die
sala
wieder betraten, hatte der Maskenball seinen Höhepunkt erreicht. Es war jetzt kurz vor Mitternacht. Auch diejenigen Gäste, die es für unter ihrer Würde hielten, einen Maskenball vor elf Uhr nachts zu besuchen, schienen inzwischen gekommen zu sein. Der Ballsaal war brechend voll, und es war unmöglich, mitten im Tanz auf die Tanzfläche zu gelangen – ebenso gut hätte man versuchen können, auf ein schnell
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