Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
Vom Netzwerk:
die ganze Zeit.»
    Der Commissario hält die Augen weiter auf sie gerichtet– freundliche, graue Augen, die ein wenig kurzsichtig zu sein scheinen. Nein – er erkennt sie definitiv nicht, und mit einem Mal weiß Elisabeth, woran es liegt. Es ist so einfach, dass sie beinahe wieder anfängt zu lachen. Elisabeth sagt: «Wo ist der Kneifer, mit dem ich Sie im Ballsaal gesehen habe?»
    Wenn der Commissario diese Frage seltsam findet, lässt er es sich nicht anmerken. Er zieht lediglich seine Augenbrauen nach oben, als er sagt: «Ich vermute, dass er sich in meiner Rocktasche befindet.»
    «Setzen Sie ihn auf, Conte!»
    Der Commissario greift in die rechte Tasche seines seidenen Rocks. Er zieht hintereinander einen Bindfaden, einen Kerzenstummel und ein Taschentuch hervor, betrachtet die Dinge nachdenklich, schüttelt den Kopf und legt alles auf den Stuhl, der neben ihm steht. Dann zieht er ein Etui aus der linken Rocktasche, entnimmt dem Etui einen kleinen, zerbrechlich aussehenden Kneifer, setzt ihn auf die Nase und blickt sie an.
    Und jetzt – endlich – sieht Elisabeth, wie er sie erkennt. Sie sieht, dass er überrascht ist – jeder, der plötzlich einer leibhaftigen Kaiserin gegenüberstünde, wäre überrascht   –, aber sie sieht auch, dass die Überraschung ihn nicht im Mindesten aus der Fassung bringt. Der Commissario lächelt – so entspannt, als würde er jeden Tag eine kaiserliche Hoheit in seiner Kapelle empfangen. Dann nimmt er den Kneifer von der Nase, tritt ohne Hast einen Schritt zurück und verbeugt sich. Er verlagert sein Gewicht auf das rechte Bein, sodass er das linke nach oben ziehen und etwas beugen kann. Zusammen mit einem kleinen Ausschlag seines Oberkörpers nach vorne und einer kreisenden Bewegung seines rechten Armes (so als würde er einen Federhut abnehmen) ergibt sich eine Verbeugung, wie sie die Tronsjahrhundertelang an europäischen Fürstenhöfen praktiziert haben – einschließlich der leichten Ironie, die darin liegt. Der Commissario sagt: «Kaiserliche Hoheit, ich bin   …»
    Sie unterbricht ihn. «Überrascht und konsterniert. Aber lassen Sie uns gleich zur Sache kommen. Wenn wir zu lange aus dem Ballsaal verschwinden, geraten wir womöglich noch ins Gerede.»
    Oh, großer Gott! Hat sie das wirklich gesagt?
Wir geraten womöglich noch ins Gerede.
Das ist in höchstem Grade zweideutig.
    Wieder lächelt der Conte, aber sie registriert keine Anzüglichkeit in seinem Lächeln.
    «Ich habe Sie hierher gebeten   …», fängt sie an und bricht sofort ab. Es passt nicht. Es hätte gepasst, wenn sie den Commissario in den Palazzo Reale gebeten hätte und nicht in die Kapelle des Palazzo Tron, auf einem Ball, zu dem sie gar nicht eingeladen ist. Außerdem hat sie einen trockenen Mund. Sie fährt sich mit der Zunge über die Oberlippe.
    Der Commissario sagt: «Darf ich Kaiserlicher Hoheit etwas zu trinken anbieten?»
    Wie bitte?
Etwas zu trinken anbieten?
Ihr? Der Kaiserin? So als wäre sie irgendeine Gräfin? Geht denn das? Und wenn sie jetzt ein Glas annimmt, dann   …
    Aber sie kann den Gedanken nicht zu Ende bringen, denn der Commissario ist schon auf dem Weg zum Altar. Außerdem scheint ihr Durst mit jeder Sekunde größer zu werden. Sie nickt. «Ein Schlückchen wäre nicht schlecht.»
    Ein Schlückchen wäre nicht schlecht.
Himmel! Wie sie redet! Franz Joseph benutzt solche Redewendungen, aber der ist ein Mann. Für eine Frau ist das eine völlig unmögliche Ausdrucksweise. Elisabeth schweigt entsetzt und beobachtet, wie der Commissario oder der Conte – sie weiß nie, in welche Kategorie sie ihn einordnen soll – eine Flasche auseiner rötlichen Medici-Vase zieht, sie mit einem weißen Tuch sorgfältig abtrocknet, den Drahtverschluss löst und dann – unter dem Handtuch – mit einer drehenden Handbewegung den Korken entfernt. Dann schenkt er ein, kommt zurück und hält ein Glas in der Hand. Nur
ein
Glas. Das ist gut. Das gibt der Trinkerei einen Einschlag ins   … Medizinische. Wäre er mit
zwei
voll geschenkten Gläsern vor sie getreten, hätte das den frivolen Charakter dieser Zusammenkunft noch verstärkt.
    Sie nimmt das Glas in die Hand – der Conte reicht es ihr mit dem Gesichtsausdruck eines besorgten Arztes   –, führt es zum Mund und spürt einen Augenblick lang das Prickeln der zerplatzenden Champagnerbläschen an ihrer Nase. Nach dem ersten Schluck wird ihr ein wenig schwindlig, also muss sie sich auf einen der samtbezogenen Stühle setzen, die vor dem

Weitere Kostenlose Bücher