Schnee in Venedig
und vom Canal Grande wehte ein Schwall kalter Luft in den überheizten Ballsaal, der die Kerzen an den Wänden und in den beiden riesigen Kronleuchtern zum Flackern brachte. Die Hälfte der Kerzen war bereits von selber erloschen. Tron sah, wie zwei Männer unter Anleitung Alessandros auf eine Leiter stiegen, um die restlichen zu löschen und aus den gläsernen Halterungen zu nehmen.
Jetzt, wo alle Gäste den Saal verlassen hatten, wirkte die
sala
überraschend klein. Die Decke, nicht länger durch denGlanz der Kerzen emporgehoben, hatte sich herabgesenkt, und selbst die noch immer zwischen den zyklamfarbenen Wolken umherflatternden Amoretten schienen tiefer zu fliegen.
Im grünen Salon waren vier Männer, alle in der gelbweißen Hausuniform der Trons, damit beschäftigt, das schmutzige Geschirr in drei riesige Körbe zu laden. Sie würden es anschließend in die Küche tragen und spülen, damit es morgen unter der Aufsicht Alessandros in der Geschirrkammer verstaut werden konnte.
Tron nahm sich eines der letzten
beignets Dauphin
von der silbernen Platte, auf der das Gebäck sich zu Beginn des Balls noch hochgetürmt hatte, und schlenderte weiter in die
sala degli arazzi
, das Gobelinzimmer, so genannt wegen der drei flämischen Gobelins, die an den Wänden aufgehängt waren.
Ein schwerer Geruch nach Parfum, Schweiß und Essensresten hing in der Luft. Überall im Raum standen benutzte Teller und Gläser herum: auf den Konsoltischen, auf den gepolsterten Stühlen, dem dreisitzigen, mit gelbem Damast bespannten Sofa; selbst der Fußboden war – jedenfalls am Rand – voll gestellt mit schmutzigen Tassen und Tellern, auf denen sich alle möglichen Reste häuften.
Tron fiel ein, dass es in der Kapelle noch den Champagnerkübel mit einer halben Flasche Champagner gab. Er durchquerte mit zwei Schritten den Vorflur, stieß die Tür auf und betrat die Kapelle. Es war Punkt vier, und über das Klirren des Geschirrs hinweg hörte Tron die hellen Glocken von San Marcuola und nach der üblichen Verzögerung von ein paar Sekunden die dumpfen Glockenschläge von San Stae.
Nach Trons Gespräch mit der Kaiserin in der Kapelle hatte niemand daran gedacht, die Kerzen auf dem Altar zulöschen. Sie brannten noch und warfen ihren Schein auf den Champagnerkühler, der auf dem Altar stand. Der Rest der Kapelle, die tagsüber ihr Licht von drei Fenstern empfing, die zum Rio Tron hinausgingen, lag im Dunkeln. Tron machte fünf vorsichtige Schritte auf den Altar zu (es war so dunkel, dass er seine Füße nicht sehen konnte), zog die Flasche aus dem Champagnerkühler und setzte sich.
Er hätte die Maske nicht bemerkt, wenn er sich nicht nach seinem Glas gebückt hätte, das auf den Stufen stand, die zum Altar führten. Die Maske, eine dunkle Halbmaske, deren Farbe Tron nicht erkennen konnte, lag unmittelbar vor der roten Brokatdecke, die den Altartisch bedeckte und dort, wo sie den Boden berührte, dicke, steife Falten warf. Die Hand daneben (Tron sah sie erst, als er seinen Kneifer aufgesetzt hatte) war dicht behaart, und über dem Gelenk bauschte sich die Brokatdecke wie eine Manschette. Es bestand kein Zweifel daran, dass Hand und Gelenk zu einem Körper gehörten, der unter dem Altartisch lag.
Tron widerstand dem Impuls, laut nach Alessandro zu rufen. Stattdessen begann er, langsam und systematisch, den Altar freizuräumen. Er nahm den Champagnerkübel herab und stellte zwei silberne und einen goldenen Abendmahlskelch neben den Altar. Schließlich schlug er das Vorderteil und die beiden Seitenteile der Brokatdecke nach oben, sodass sie auf dem Altartisch lag wie ein sauber gefaltetes Hemd. Als er fertig war, trat er einen Schritt nach links. Dann bückte er sich, beugte ein Knie, fast so, wie er es vor ein paar Stunden bei seiner Mutter gesehen hatte. Er stellte einen Kerzenleuchter neben eines der vier Tischbeine, sodass das Gesicht des Mannes gut zu erkennen war. Dann hielt er den Atem an.
Pergen lag auf dem Rücken und starrte mit weit aufgerissenenAugen auf die Unterseite des Altars. Sein Mund war leicht geöffnet, so als wäre er im Begriff, etwas Kompliziertes zu sagen. Er trug einen schwarzen Frack mit schwarzer Fliege und gestärkter Hemdbrust, und auf den ersten Blick sah es aus, als hätte er sich eine große Portion Erdbeersorbet auf das makellose Weiß seines Hemdes gekleckert. Aber die rötliche Flüssigkeit, die seine Hemdbrust verunzierte, war kein Erdbeersaft, sondern Blut.
Tron machte sich nicht die Mühe,
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