Schnee in Venedig
war. Der Wind hatte gedreht und kam jetzt von Norden. Am Boden fegte er Schnee gegen die Hauswände, am Himmel, der verhangen und bösartig aussah, trieb er schieferfarbene Wolken auf die Stadt zu. Als Tron die Fondamenta di Borgo erreicht hatte, fielen die ersten Schneeflocken auf ihn herab, und wenn er den Blick hob, blickte er in Millionen schräg fallender Flocken, die nach Süden getrieben wurden.
Während Tron den Ponte dei Pugni überquerte und die Via Terrà Canal entlang zum Campo Santa Margherita lief, überlegte er, wie die Reaktion Tommaseos auf den Tod des Hofrats zu bewerten war. Die Genugtuung, die der Priester über den Tod Hummelhausers zum Ausdruck gebracht hatte, war unübersehbar gewesen. Wahrscheinlich kam Pater Tommaseo, der von seiner moralischen Überlegenheit über den Rest der Welt felsenfest überzeugt war, gar nicht der Gedanke, dass er sich damit verdächtig machen könnte. Oder – das war die andere Möglichkeit – konnte es sein, dass es Pater Tommaseo war, der Hummelhauser und das Mädchen getötet hatte und sich jetzt, nach der Verhaftung Pellicos und dessen Tod, absolut sicher fühlte? Musste er diese Wendung nicht als einen Fingerzeig verstehen, dass der Herr seine Hand über ihn – sein Werkzeug – hielt?
Einen Augenblick lang versuchte Tron sich vorzustellen, wie Tommaseo mit wehender Soutane in die Kabine des Hofrats eingedrungen war, zwei Kugeln in Hummelhausers Schläfe gefeuert hatte und anschließend das Mädchen (das er im Eifer des Gefechtes vielleicht für einen Mann gehaltenhatte) erwürgt hatte. Was sprach dagegen? Dass Tommaseo ein Priester war? Priester hatten, in der festen Überzeugung, den Willen des Herrn zu vollstrecken, schon weitaus schlimmere Dinge getan, als nur einen Mann und ein junges Mädchen zu töten. Und einem Mann wie Tommaseo, der trotz des religiösen Feuers, das in ihm brannte, eiskalt zu sein schien, war alles zuzutrauen. Was allerdings bedeuten würde, dass Grillparzer unschuldig war. Und der hatte ein wesentlich handfesteres Motiv als Tommaseo.
Die Nummer 28, die Adresse Ballanis, erwies sich als der kleine gotische Palast an der Westseite des Campo, fast direkt gegenüber der Scuola dei Varotari, einem kleinen, mitten auf dem Campo stehenden Backsteingebäude, vor dem zwei- oder dreimal in der Woche der lokale Fischmarkt stattfand.
Obwohl es im Treppenhaus kalt und feucht war, schlug Tron eine Welle von undefinierbaren Essensgerüchen entgegen. Er musste zwei Treppen hinaufsteigen, um auf einer grün gestrichenen Tür, von der die Farbe abblätterte, den Namen
Ballani
zu entdecken. Da er nirgendwo einen Klingelzug entdecken konnte, klopfte er, und als sich nichts in der Wohnung rührte, klopfte er noch einmal.
Es dauerte Minuten, bis sich die Tür eine Handbreit öffnete und das Gesicht eines jungen Mannes auftauchte, das eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Gesicht der Frau auf der Fotografie besaß. Allerdings war es schwierig, das Gesicht zu erkennen, denn mit der linken Hand presste der Mann einen Lappen auf eines seiner Augen. Außerdem war seine Oberlippe aufgeplatzt und stark geschwollen. Wenn es sich hier tatsächlich um Raffaele Ballani handelte, schien er in eine üble Prügelei geraten zu sein.
«Sì?»
Er sah Tron fragend an, der plötzlich das Gefühl hatte, als würde der Mann einen Besucher erwarten.
«Signor Raffaele Ballani? Ich bin Commissario Tron vom Sestiere San Marco.»
Ballani öffnete die Tür etwas weiter und trat einen Schritt zurück, um Tron in die Wohnung zu lassen. «Dann kommen Sie rein», sagte er.
Im Flur war es nicht sehr hell, aber hell genug, um das Chaos zu erkennen, das in der Diele herrschte. Die Schubladen der Kommode, die neben der Wohnungstür stand, waren herausgezogen, und ihr Inhalt lag überall auf dem Boden verstreut. Vor einem Kleiderschrank an der gegenüberliegenden Wand stapelten sich in einem wirren Haufen Mäntel, Westen, Hosen, Hemden und Schuhe. Irgendjemand hatte die Kleidung Ballanis und die Schubladen der Kommode durchwühlt, wobei es ihm gleichgültig war, in welchen Zustand er die Diele dabei versetzte.
Ballani schien es für überflüssig zu halten, das Chaos in seiner Wohnung zu kommentieren. Stattdessen fragte er: «Haben Sie das Geld für mich?»
«Welches Geld, Signor Ballani?»
Ballani sah Tron irritiert an. «Das Geld, das mir Oberst Pergen versprochen hat.»
«Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Signor Ballani.»
«Hat Sie Oberst Pergen nicht
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