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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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neckischen Tonfall in ihre Stimme zu legen, aber dann geriet er ihr so hoch, dass sich ihre Stimme überschlug. Offenbar war sie erregter, als sie gedacht hatte.
    Als keine Antwort kam, versuchte sie es zum zweiten Mal. Sie achtete auf Atmung und Haltung und klang, als sie sprach, völlig normal. «Signor Moosbrugger?»
    Wieder blieb alles still. Das Einzige, was sie hörte, waren elf würdevolle Glockenschläge von San Samuele.
    Sie betrat den kurzen Korridor, blieb stehen und räusperte sich. Es war kein normales Räuspern, sondern ein Bühnenräuspern. Im Fenice wäre es bis in die letzten Reihen zu hören gewesen und hätte im Umkreis von hundert Metern einen Schlafenden aufgeweckt, aber bei Moosbrugger schien es keine Reaktionen auszulösen.
    Filomena Pasqua hätte sich umgedreht, um die Wohnung zu verlassen, wenn nicht plötzlich dieser Geruch da gewesen wäre. Der Geruch war schwach, aber nicht zu leugnen. Sie kannte ihn, aber sie war nicht in der Lage, ihn einzuordnen. Es war ein Geruch nach Erde, nach feuchter, warmer Erde, aber zugleich schwang etwas darin mit, das ihr Unbehagen bereitete. So roch es, wenn man etwas verschüttet hatte. Etwas, dessen Zubereitung lange Zeit in Anspruch genommen hatte und um das es entsprechend schade war. Aber was hatte Moosbrugger verschüttet?
    Sie machte einen Schritt nach vorne und schob den Kopf so weit vor, dass sie in Moosbruggers Wohnzimmer hineinblicken konnte.
    Als Erstes sah sie die Petroleumlampe, die auf dem Tisch stand; ihr Schein fiel auf ein Schlüsselbund, eine halb geleerte Flasche Wein und ein Paar Handschuhe. Dahinter, ausgeschnitten aus der dunklen Wand, war ein Rechteck aus mattem Licht zu sehen – das Fenster, das zum CanalGrande hinausging. Etwas Größeres bewegte sich draußen vorbei – sie konnte nichts erkennen, aber durch das geschlossene Fenster hindurch hörte sie den Wellenschlag an den Fundamenten des Hauses.
    Und dann, eine halbe Minute später vielleicht, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte sie Moosbrugger auf dem Fußboden.
    Zwischen dem Tisch und einem kleinen Regal, auf dem sein weniges Geschirr stand, lag er in merkwürdig entspannter Haltung auf dem Rücken, fast wie ein Schlafender. Seine Arme waren geöffnet und nach außen gedreht, sodass seine Handflächen sich ihr entgegenstreckten. Mit seinen offenen Augen machte er den Eindruck, als sei er im Begriff, etwas zu sagen, aber als ihr Blick auf seinen Hals fiel, war ihr klar, dass Moosbrugger nie mehr etwas sagen würde.
    Der Schnitt durch seine Kehle hatte keine klaffende Wunde hinterlassen, sondern nur eine schmale, in der Dunkelheit des Zimmers schwärzlich glänzende Kerbe. Es war nicht nötig, sich zu bücken, um zu wissen, dass der Schnitt bis tief unter Moosbruggers Haut reichte. Es musste ein schneller Schnitt gewesen sein, der ihn fast augenblicklich daran gehindert hatte, zu atmen und zu schreien, und ebenso schnell seinem Herzen die Möglichkeit genommen hatte, das Gehirn weiter mit Blut zu versorgen.
    Filomena Pasqua schrie nicht. Sie sank nur langsam und anmutig auf die Knie, so als würde sie wieder auf der Bühne stehen, von der man sie vor mehr als zwanzig Jahren vertrieben hatte – und fiel zum ersten Mal in ihrem Leben in Ohnmacht.
    Als sie nach zwei Minuten wieder zu sich kam, reichte die Kraft in ihren Beinen nicht, um aufzustehen. Also kroch sie aus Moosbruggers Wohnung hinaus, mit wirr ins Gesicht hängenden Haaren und offenem Mund. Sie fing erstan zu schreien, als sie auf der Calle del Traghetto hockte. Ein Nachbar brachte sie zurück ins Haus und schickte den Laufburschen des Gemüsehändlers vom Campo San Benedetto zur Wache an der Piazza.

28
    Tron erreichte die Nachricht, dass sich im Lagerhaus an der Calle Garzoni ein Verbrechen ereignet hatte, eine Stunde später bei einem Teller
risotto alle seppie
in der
Trattoria Goldoni
, einer kleinen Gaststätte, die nur wenige Schritte von der Questura entfernt lag und in der die Kommissare von San Marco traditionellerweise zum halben Preis bedient wurden. Grund dafür war eine fehlende Schankerlaubnis und eine fehlende Bereitschaft des zuständigen Kommissariats, sich mit dem Fall zu befassen – ein Zustand, der bereits Trons Vorgänger zu einem günstigen Mittagessen verholfen hatte.
    Eine halbe Stunde später stieg Tron am Palazzo Garzoni aus der Gondel. Die Nachricht, die ihn in die Calle del Traghetto gerufen hatte, war etwas wirr. Fest stand lediglich, dass sich in dem

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