Schnee in Venedig
und verließ das Zimmer. Vor dem Spiegel im Flur sah er, dass die Frau einen Knopf von seinem Mantel abgerissen hatte. Das war ärgerlich, aber er hatte ohnehin vorgehabt, diesen Mantel so schnell wie möglich loszuwerden.
Niemand kam ihm entgegen, als er langsam die Treppe hinabstieg. In der Via Bramante wandte er sich nach links. Hinter dem Ospedale Maggiore, weit weg vom Hafen, gab es eine einfache Trattoria, die von Pflegern des Hospitals frequentiert wurde. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihm dort jemand über den Weg lief, den er kannte, war äußerst gering. Nach dem Essen würde er sich einen Kaffee bestellen und ein wenig in dem Büchlein schmökern, das er in der Tasche hatte.
Er lächelte vergnügt, als er die Via Bramante verließ, um links in die Via della Madonna einzubiegen. Ein eleganter Landauer, von zwei jungen Frauen gelenkt, bog um die Ecke. Er trat auf den Gehsteig zurück und winkte ihnen fröhlich zu. Die beiden Frauen lachten. Sie sahen einen gut gelaunten Herrn in den besten Jahren, der offenbar gerade ein erfreuliches Erlebnis gehabt hatte, und in gewisser Weise hatten sie Recht.
39
Elf Stunden später setzte Haslinger das Glas ab und ließ die Gabel, die er eben zum Mund hatte führen wollen, zurück auf den Teller sinken. Er kniff seinen Mund zusammen und sah aus wie jemand, der etwas Bitteres verspeist hatte, was definitiv nicht der Fall war. Das Einzige, was er zusammen mit Tron in der letzten halben Stunde zu sich genommen hatte, war Weißbrot, französische Leberpastete und Haute Sauternes gewesen, von Letzterem allerdings reichlich. Einen Moment lang hatte Tron den Eindruck, dass Haslinger ein Grinsen unterdrückte.
Die
Prinzessin Gisela
, das Schwesterschiff der
Erzherzog Sigmund
, hatte pünktlich um Mitternacht von Triest abgelegt. Tron und Haslinger saßen wieder an einem Zweiertisch. Vor einer halben Stunde waren die Lichter von Triest am Horizont verschwunden, und die
Prinzessin Gisela
würde in den nächsten neun Stunden sechs Seemeilen vor der Küste den Leuchtfeuern auf dem Festland folgen.
Sie hätten ebenso gut auf der
Erzherzog Sigmund
sitzen können, denn die beiden Raddampfer glichen sich wie ein Ei dem anderen: die gleiche Möblierung des Salons, die gleichen Kabinen, die gleichen Passagiere. Am Nebentisch saß wieder ein Rudel Kaiserjäger, an den restlichen Tischen die übliche Mischung aus Touristen und kaiserlichen Beamten, von denen die Hälfte ihren Bart so trug wie Franz Joseph. Nur das Personal war ein anderes. Anstelle von Putz stand ein blonder Hüne hinter der Theke, für die Bedienung sorgte ein Kellner mit einem gewaltigen habsburgischen Unterkiefer. Das Essen war ausgezeichnet. Haslinger hatte darauf bestanden zu zahlen.
«Er ist was?», fragte Haslinger, nachdem er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle hatte.
«Er ist in Ohnmacht gefallen, als er die Leiche von Signora Schmitz sah», sagte Tron.
«Einfach so?»
Tron nickte. «Einfach so. Als wir kamen, lag Signora Schmitz im Wohnzimmer. Mit blutüberströmtem Kopf und durchgeschnittener Kehle. Der Mörder muss kurz vor unserem Eintreffen die Wohnung verlassen haben. Ein paar Minuten früher wären wir ihm auf der Treppe begegnet. Aus der Halsschlagader von Signora Schmitz sickerte immer noch Blut.»
«Und Spadeni ist sofort zusammengeklappt?»
«Nicht sofort. Er hat zuerst gar nicht begriffen, was er sah. Als er es begriffen hatte, wurde er ohnmächtig.»
Dass Spadeni am ganzen Leibe zitternd auf der Schwelle gestanden hatte und ganze drei Minuten gebraucht hatte, um die Situation zu erfassen, erwähnte Tron nicht. Er erwähnte auch nicht, dass der Inspektor, als er nach zehn Minuten wieder zu sich kam, nicht in der Lage war aufzustehen, sondern versucht hatte, zur Tür zu kriechen. Tron fand, es gehörte sich nicht, über einen Kollegen herzuziehen, zumal er selber kurz davor gewesen war, sich zu übergeben.
Tron hatte den Rest des Nachmittags und einen Teil des Abends damit verbracht, Spadeni davon zu überzeugen, dass ein Bericht von dreißig eng beschriebenen Seiten, verfasst im Stil eines französischen Reißers («Eben noch dem blühenden Leben angehörend, hatte der unbarmherzige Gevatter Tod ihr fein gebildetes Antlitz in eine blutige Fratze verwandelt»), sich auf die Aufklärung des Falls eher negativ auswirken würde. Schließlich hatten sie fünf brauchbare Seiten zusammengeschustert, die Spadeni, im Mundwinkel eine Zigarre und in der linken Hand ein Kotelett, zu Papier
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