Schnee in Venedig
Vielleicht ist über Nacht ein wenig Schnee gefallen, vielleicht aber ist der weiße Schimmer auf den Steinplatten nur eine dünne Schicht von Raureif. Es ist neun Uhr morgens,und Elisabeth ist seit zwei Stunden wach. Sie hat sich bereits um sieben Uhr wecken lassen.
Königsegg ist gestern Abend mit dem Achtuhrzug aus Verona zurückgekommen. Seine Ausbeute befand sich in zwei großen Leinentaschen, die ihm ein schwitzender Adjutant in den Palazzo Reale getragen hat. Der Generalmajor hatte eine Stunde im Zentralarchiv und weitere zwei Stunden im Archiv des Militärgerichts verbracht. Er war stolz auf seinen Spürsinn – mit Recht, wie Elisabeth später festgestellt hat. Sie hat sofort mit der Durchsicht der Akten begonnen und sich bis weit nach Mitternacht Notizen gemacht.
Die eigentlichen Personalakten bilden den kleinsten Teil der Beute. Sie bestehen aus kurzen Konvoluten, auf denen Beförderungen, Auszeichnungen und Disziplinarvermerke festgehalten sind. Diese Akten beginnen mit den Zeugnissen der Kadettenanstalt und enden mit den letzten Beförderungen und Versetzungen.
Der größte Teil der Unterlagen besteht aus den Akten eines Prozesses, der im Januar 1850 vor einem Militärgericht in Verona geführt wurde, und den Protokollen eines Disziplinarverfahrens, das ein Jahr später ebenfalls in Verona stattfand. Im Prozess ging es um die Misshandlung eines Mädchens, im Disziplinarverfahren um die Beleidigung eines Wiener Polizisten im Zusammenhang mit einem Mord an einer Prostituierten. Der Prozess endete mit einem Freispruch des Angeklagten; das Disziplinarverfahren mit einem Verweis, der in die Personalakten eingetragen wurde. Den Prozess hat Oberst Pergen als Vorsitzender Richter der Militärstrafkammer geleitet; im Disziplinarverfahren fungierte er als Vertrauensoffizier des Beschuldigten.
Der Prozess betraf einen Vorfall, der sich unmittelbar nach der Kapitulation Venedigs im September 1849 abgespielt hatte. Ein Sonderkommando der kroatischen Jäger, das die
terra ferma
, das Hinterland der Lagunenstadt, nach versprengten Aufständischen durchkämmte, hatte den Hinweis erhalten, dass sich in einem Bauernhof in der Nähe von Gambarare Rebellen versteckt hielten. Die Soldaten durchsuchten den Hof, aber sie fanden niemanden. Sie verhörten den Pächter und erschossen ihn und seine Frau bei einem Fluchtversuch – eine Geschichte, für die sich niemand interessiert hätte, wenn nicht das Mädchen gewesen wäre.
Das Mädchen, die Tochter des Pächters, wurde am Abend nach der Durchsuchung des Hofes bewusstlos, entkleidet und mit Bissen auf dem Oberkörper in der Scheune gefunden. Der Pfarrer von Gambarare, ein Pater Abbondio, erstattete Anzeige, und es kam zu einer Untersuchung, in der einer der Sergeanten den Offizier, der das Kommando geführt hatte, beschuldigte. Was der Sergeant zu Protokoll gab, war so überzeugend, dass Anklage gegen den Offizier erhoben wurde. Doch als Wort gegen Wort stand, gab die Aussage des kommandierenden Offiziers den Ausschlag. Das Gericht unter dem Vorsitz Pergens hatte es abgelehnt, weitere Zeugen (die inzwischen in andere Einheiten versetzt waren) zu vernehmen.
Eine Wiederaufnahme des Prozesses, für die Pater Abbondio ein Jahr lang gekämpft hatte, wurde auch deshalb abgelehnt, weil der wichtigste Belastungszeuge, der Sergeant, sechs Monate nach Abschluss des ersten Prozesses ermordet wurde. Man fand ihn mit durchschnittener Kehle vor einer Spelunke in Padua. Eine Notiz von unbekannter Hand auf dem Aktendeckel – vorgenommen am 16. Juni 1852 – besagt, dass der Mörder nie gefasst worden ist.
Das zweite Konvolut, das sich in der Anlage zu den Personalakten gefunden hat, betrifft ein Disziplinarverfahren, das gegen denselben Offizier eingeleitet worden ist, der im September 1849 den Suchtrupp befehligt hat. Dafür, dass esnur um ein Disziplinarverfahren ging, ist die Anlage auffällig umfangreich. Wer immer die Akten zusammengestellt hat, schien mit dem Ausgang des Verfahrens nicht einverstanden gewesen zu sein.
Im Januar 1851 ist in der Wäschekammer eines großen Wiener Hotels die Leiche einer Prostituierten gefunden worden. Daraufhin hat die Polizei die Hotelgäste als Zeugen befragt. Die Gäste waren kooperativ bis auf den Offizier, der den ermittelnden Inspektor als «Affenschwanz» bezeichnete – in aller Öffentlichkeit. Man fand, dass dieser Kraftausdruck für die Unschuld des Offiziers sprach, war allerdings der Ansicht, dass diese Entgleisung geahndet werden
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