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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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auffällig gewesen wäre.
    Sein Vorhaben war riskant. Er war in hohem Maße darauf angewiesen, dass der technische Ablauf reibungslos funktionierte und er sich beim Schnitt nicht beschmutzte.Es würde sehr schnell gehen müssen. Er müsste immer damit rechnen, dass eine unerwartet auftauchende Person alles verdarb, aber er hatte keine Wahl.
    Jedenfalls nicht, wenn es stimmte, was ihm Oberst Bruck heute Mittag auf der Piazza erzählt hatte (erstaunlich, wie oft man nach all den Jahren immer noch alte Regimentskameraden traf): dass irgendjemand seine Militärakten aus dem Zentralarchiv in Verona angefordert hatte. Oberst Brucks Geschichte war ein wenig lückenhaft gewesen – der Oberst hatte nicht sagen können,
wer
an seinen Akten interessiert war, aber das war auch überflüssig, denn es lag mehr oder weniger auf der Hand.
    Im Grunde, dachte er weiter, war es keine große Überraschung, dass der Commissario seine Witterung aufgenommen hatte – es war lediglich eine Frage der Zeit gewesen. Also würde er ihn heute Abend ausschalten müssen – bedauerlich, aber unvermeidlich. Und leider war Tron nicht der Einzige, der ihn bedrohte. Seit Pergen den Papieren des Hofrats auf der Spur war, konnte man ihn nicht mehr unter Kontrolle halten.
    Dass er die Räumlichkeiten im Palazzo Tron nicht kannte, war kein Problem. Er hatte Zeit, genug Zeit, sich im Laufe des Abends damit vertraut zu machen. Es würde ohnehin erforderlich sein, ständig in Bewegung zu bleiben, denn so fiel er am wenigsten auf.
    Er verließ seinen Platz vor dem Spiegel, durchquerte den Raum und nahm an einem Tisch Platz, der direkt vor dem Fenster stand.
    Dort lag, auf einem grünen Filztuch, das Messer, das er benutzen würde, ein Messer mit einem Griff aus Elfenbein und einer Scheide, die ebenfalls aus Elfenbein gearbeitet war. So scharf, wie es war, konnte man das Messer unmöglich ohne soliden Schutz transportieren. Neben dem Messerlagen ein Wetzstein, ein runder Abziehstahl, Bimssteinpulver und ein Poliertuch, wie es Mineralogen verwenden, um die Oberfläche eines Anschliffs glänzend zu machen; schließlich ein Streifen Pferdeleder, um auch die letzten Spuren eines Grates von der Klinge zu entfernen, ohne sie dabei stumpf zu machen.
    Er streifte sich ein Paar braune Handschuhe aus Hirschleder über. Das Leder war dünn und butterweich, zugleich aber fest und strapazierfähig: das charakteristische Produkt eines klassischen Gehirngerbens. Die Gerber – eine kleine Werkstatt in Brixen – waren davon überzeugt, dass jedes Tier gerade so viel Gehirnsubstanz besitzt, dass man damit sein eigenes Fell gerben kann. Er vermochte nicht zu beurteilen, ob das stimmte, aber er liebte die Vorstellung, dass der intensive Kontakt mit der Gehirnmasse dem Leder der Handschuhe eine Art Intelligenz verliehen hatte. Die Handschuhe würden mithelfen zu schneiden. Er würde sie heute Abend überstreifen, kurz bevor er das Messer aus der Scheide ziehen würde. Das Messer würde zu einer Verlängerung seiner Hand werden und Kraft und Präzision in seinen Schnitt legen. Schon das Gefühl, wie das weiche, samtige Leder sich um den glatten Griff des Messers schmiegte, war unvergleichlich.
    Er begann mit dem Grobschliff der Klinge, einem kurzen Entlangziehen des Messers auf dem Wetzstein, wobei er sorgfältig darauf achtete, die Klinge nicht steiler als in einem Winkel von zehn Grad über den Stein zu führen. Dann bearbeitete er die Klinge mit einem Abziehstahl, wie Fleischer ihn benutzen. Anschließend tupfte er den befeuchteten Zeigefinger in das Bimssteinpulver, rieb ein wenig davon auf die Messerschneide und scheuerte die Schneide ausgiebig mit dem Poliertuch. Der letzte Bearbeitungsschritt bestand darin, den Stahl der Messerschneidewieder und wieder über das Pferdeleder zu ziehen.
    Jedes Mal faszinierte ihn aufs Neue, wie völlig unterschiedlich die Geräusche waren, die entstanden, wenn die Klinge die verschiedenen Materialien berührte. Das Geräusch, mit dem sie über den Wetzstein strich, war scharrend und kratzig – im Grunde unangenehm, ein bäuerischer, grober Laut, so als würde man eine Sense schärfen. Nahezu elegant dagegen war das helle Klingen, mit dem das Messer auf den runden Wetzstahl traf. Er hatte im Laufe der Jahre eine Technik entwickelt, die ihn das Messer dabei weniger aus dem Arm als vielmehr aus dem Handgelenk führen ließ. Den Abziehstahl hielt er, anders als es die Schlächter tun, nicht einfach starr gegen die Klinge, sondern bewegte ihn

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