Schnee in Venedig
maskierte Unbekannte unter ihr Kinn hält, bewegt sich zweimal auf sie zu, dann senkt er sich herab.
Sie wird keine Schwierigkeiten haben, einen Tänzer zu finden.
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Tron fragte sich manchmal, wie die Contessa es fertig brachte, auf ihrem Maskenball jedes Jahr den Eindruck relativer Wohlhabenheit zu erwecken. Denn niemand, der über die wackelnden Stufen der großen Treppe zum Ballsaal des Palazzo Tron emporschritt, konnte vermeiden, dass sein Blick auf bröckelndes Mauerwerk fiel, auf Putz, der sich von der Decke gelöst hatte, auf fingerdicke Risse im Handlauf des Geländers.
Umso größer fiel dann allerdings die Überraschung beim Betreten der
sala
aus. Wenn die über dreihundert Kerzen brannten und den Ballsaal in ein weiches, honigfarbenes Licht tauchten, blieben diejenigen, die den Maskenball der Trons zum ersten Mal besuchten, unwillkürlich stehen und sperrten entzückt den Mund auf – ein Anblick, der die Contessa jedes Mal mit Befriedigung erfüllte. So gesehen machte der Ballsaal durchaus Eindruck – jedenfalls so viel Eindruck wie ein sorgfältig gemaltes Bühnenbild.
Als die Trons im Jahre 1775 Kaiser Joseph II. empfangen hatten, den Sohn Maria Theresias, waren es knapp siebzig Diener gewesen, die sich um das Wohl der Gäste gekümmert hatten – im Hausarchiv der Trons war all dies dokumentiert. Heute, fast hundert Jahre später, im Februar des Jahres 1862, waren es dreißig Diener, die sich um rund einhundertfünfzig Gäste zu kümmern hatten. Zehn von ihnen sorgten als lebende Kandelaber für die Beleuchtung des Treppenhauses, die anderen nahmen ihre Aufgaben im Ballsaal und in den angrenzenden Räumen wahr – Getränke nachschenken, das Buffet überwachen und benutzte Gläser und Teller in die Küche räumen. Dazu kamen zwölf Musiker, rekrutiert aus dem Orchester des Fenice. Die Kostendes Balles, inklusive der Getränke und der
table à thé
, betrugen knapp zweihundert Lire – das war ungefähr ein Drittel dessen, was Tron als Commissario im Jahr kassierte. Früher dienten die Maskenbälle auch dem Knüpfen von Verbindungen, der Anbahnung von Geschäften. Heute, wo den Ausgaben keine Gewinne mehr entgegenstanden, war dieser Ball ein reines Verlustgeschäft.
Die ersten Gäste kamen kurz nach acht: Bea Mocenigo und ihr Anhang, der apathische Conte Mocenigo mit dem hartnäckigen Hautausschlag und den schlechten Zähnen und seiner Schwester, die in einen bröckeligen Reifrock gekleidet war, der aussah wie das Treppenhaus der Trons, verzehrt von den Verheerungen des Alters. Die Mocenigos hatten ihre Maskenbälle bereits in den vierziger Jahren einstellen müssen, weil sie gezwungen gewesen waren, ihr Hauptgeschoss an Fremde zu vermieten – ohne diese Maßnahme hatten sich die nötigen Reparaturen an ihrem Palast nicht mehr finanzieren lassen, und daher mischte sich in ihre Begrüßung eine leise Missgunst.
Dann erschien, ebenfalls kurz nach acht, eine Horde Priulis, den Geruch von Zimmerdecken verbreitend, durch die es geregnet hatte. Die Priulis wurden von den Mocenigos wegen eines schwelenden Erbschaftsstreits aus den Tagen der Liga von Cambrai höflich, aber äußerst kühl begrüßt. Anschließend begab man sich gemeinsam in das Gobelinzimmer, um sich am kalten Buffet zu laben, vor dem sich kurz darauf auch andere Angehörige der alten Familien versammelten wie Steppentiere um ein Wasserloch. Die Angehörigen der alten Familien erschienen immer früh auf dem Ball der Trons, um sich wie Heuschrecken auf das Gebäck und die Hühnerkeulen zu stürzen, sich gegenseitig belauernd wie in vergangenen Jahrhunderten bei der Wahl des Dogen.
Gegen zehn Uhr hatte sich die
sala
in einen Hexenkessel verwandelt, in ein ekstatisches Gewoge aus gewagten Dekolletés und glitzernden Colliers unter Masken in allen Variationen – Masken aus Samt, perlenbestickt oder mit Pailletten verziert, Katzenmasken, Fuchsmasken, mit bunten Federn verzierte Vogelmasken oder orientalische Masken, die einen Saphir oder einen Rubin auf der Stirn trugen und an indische Maharadschas denken ließen. Die erhobenen Stimmen und Lachsalven erweckten den Anschein, dass nichts hinreißender sein konnte, als im Ballsaal des Palazzo Tron unter einem von Jacopo Guarana gemalten Himmel an einem Maskenball teilzunehmen.
Wieder war in diesem Jahr der Anteil der Gäste, die es vorzogen, einen Frack zu tragen und nicht in Rock, Weste und Kniebundhose zu erscheinen, ein wenig gewachsen. Stilistisch betrachtet mochten die
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