Schneegestöber (German Edition)
singen, wenn es ihr Freude machte. Das konnte sie auch tun, wenn sie verheiratet waren. Er mußte ihr dann nicht mehr zuhören.
Mary Ann mochte Paulinas Gesang auch nicht. Erst gestern hatte sie sich deswegen in die Bibliothek zurückgezogen. Als er sie endlich fand, saß sie dort im Schein der Kerzen und übersetzte Texte von Tacitus. Der Earl schüttelte den Kopf. Er konnte es immer noch nicht fassen. Er hatte noch nie eine Frau kennengelernt, die in der Lage war, lateinische Texte zu übersetzen. Er hatte allerdings auch noch nie eine Detektivin gekannt. Detektivinnen waren anscheinend ganz besonders gebildete Frauen. Mr. Goldsmith verdiente seine Hochachtung. Sein Geschäft mußte gutgehen, wenn er es sich leisten konnte, seine Mitarbeiter derart umfassend auszubilden. Oder hatte Mary Ann die gute Ausbildung bereits besessen, bevor sie zu Mr. Goldsmith gekommen war? Er dachte an den kleinen Mann mit der großen Nase, der ihm einst in seiner Bibliothek in der Brook Street gegenübergesessen war. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß dieser Mann für Mary Anns Ausbildung zuständig gewesen war. Wie gerne hätte er mehr über die Detektivin gewußt. Doch diese gab sich immer wortkarg, wenn er sie nach der Herkunft ihres Wissens fragte. »Wo hast du gelernt, lateinische Texte zu übersetzen?« hatte er sie gefragt. Doch Mary Ann war ihm, wie so oft, ausgewichen und hatte das Buch zugeschlagen und es auf das Regal zurückgestellt: »Das ist schon lange her«, hatte sie gemeint und den Staub von ihren Händen gewischt. »Da ich nichts Besseres zu tun hatte, dachte ich, es sei nicht schlecht, meine Kenntnisse wieder aufzufrischen. Aber vielleicht findest du ja im Regal ein Buch, das interessanter wäre.« Er hatte mit seinen Augen die reich bestückte Bibliothek abgesucht und schließlich eine Ausgabe von Shakespeares Sommernachtstraum gefunden. Das war ein Stück, das er besonders gerne mochte. Er fragte Mary Ann, ob sie ihm daraus vorlesen wolle. Doch sie fand, er hättedie schönere Stimme. Und da sie sich nicht einigen konnten, beschlossen sie, das Buch gemeinsam zu lesen. Mary Ann die Frauenrollen, er selbst die männlichen Darsteller. Und so setzten sie sich auf das breite, weit ausladende Ledersofa und begannen den ersten Akt zu lesen. Das Stück war wirklich amüsant. Sie hatten viel zu lachen, und es wurde der lustigste Abend seit langem. Der Earl schmunzelte. Heute wollten sie das Lesen fortsetzen. Er freute sich schon darauf. Vielleicht kam Paulina mit in die Bibliothek. Wenn sie nicht mit ihnen lesen wollte, so konnte sie sich doch einfach zu ihnen setzen. Und sticken vielleicht. Schade, daß Mary Ann nicht seine wirkliche Schwester war. Dann hätte er sie einladen können, bei ihnen zu wohnen, wenn er mit Paulina verheiratet war. Er hatte sie gerne um sich. Sie war gebildet, klug und unterhaltsam. Sie war ihm vertraut geworden wie ein Freund. Wäre sie in Mann gewesen, wäre er stolz gewesen, sie zum Freund zu haben. Doch Mary Ann war unzweifelhaft eine Frau. Eine reizvolle Frau. Der Earl stutzte. Hatte er sie eben reizvoll genannt? Mary Ann? Er konnte es selbst kaum fassen. Er war doch sonst kein Bewunderer von großen Oberweiten und ausladenden Hüften. Und dann noch die roten Haare! Üppige, feuerrote, lange Locken. Bisher hatten ihm doch nur zarte, mädchenhafte junge Damen gefallen. Wie Silvie Westbourne, wie Christine d’Arvery, wie Paulina. Ja, auch wie Kitty, auf die Al ein Auge geworfen hatte. Sie waren blond oder dunkelhaarig. Der Earl überlegte lächelnd: Die Blonden wollte er heiraten, die Schwarzen in sein Bett. Doch was sollte er mit einer Rothaarigen anfangen? Als seine Maitresse konnte er Mary Ann schon gar nicht in das Haus bringen, das er mit seiner Frau bewohnte. Außerdem würde Mary Ann nie zustimmen, seine Geliebte zu werden. Er wunderte sich selbst, daß er in dieser Frage so sicher war.
In diesem Augenblick fuhr er aus seinen Gedanken auf und hielt die Luft an. Da war es wieder! Dieses seltsame Pfeifen. Jemand pfiff eine kleine Melodie. Es waren nicht mehr als drei Takte, die da leise und gedämpft durch die geschlossene Tür an sein Ohr drangen. Drei Takte, die ihm nicht gänzlich unbekannt waren. Die er bereits einmal vernommen hatte. Und er wußte genau, wo er sie zum letztenmal gehört hatte. In der Kirche. Ja, in der St.-George-Kirche anläßlichseiner Hochzeit. Mit einem Satz war er auf den Beinen. Er riß die Tür auf und stürmte aus dem Zimmer. Doch weit und
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