Schneegestöber (German Edition)
eigentlich denken können«, sagte er. »Was allerdings hätte ich denn anders machen können? Mich bis zur Unkenntlichkeit verkleiden? Nein, es ging schon diese Maskerade bis an die Grenzen des Erträglichen. Doch glaube mir, es hat Zeiten gegeben, da hätte ich fast alles gemacht, um dich endlich aufzuspüren. Ich habe mir den Kopf zermartert, was der Grund dafür sein konnte, daß du so plötzlich verschwunden bist. Ich habe mir das Wiedersehen mit dir oft in Gedanken ausgemalt. Allerdings…«, er unterbrach sich und lachte abermals auf, »nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich mirvorstellen können, dich als Schmugglerbraut in einer Fischerhütte wiederzutreffen.«
»Nicht Schmugglerbraut«, widersprach Silvie lächelnd. »Schmuggler. Habe ich dich sehr schockiert?«
St. James überlegte: »Nein, nicht eigentlich schockiert«, antwortete er langsam. »Sagen wir eher: überrascht.«
Silvie musterte ihn prüfend von der Seite: »Du hast dich verändert, St. James«, stellte sie schließlich fest.
St. James war schlagartig ernst: »Inwiefern?« Fragend hob er eine Augenbraue.
Silvie überlegte: »Das weiß ich nicht genau. Ich spüre es einfach. Und ich denke, daß es dich vor wenigen Wochen noch ganz schön schokkiert hätte, mich in Hosen und mit einer schwarzen Gesichtsmaske zu sehen, und dann erst die unflätigen Ausdrücke, die ich dir an den Kopf geworfen habe.« Sie lachte wieder glockenhell auf. »Du hättest dein überraschtes Gesicht sehen sollen, als du erkanntest, wer vor dir stand. Und dennoch hast du mein Spiel mitgespielt. Dein Verhalten den Soldaten gegenüber war größartig. Und es paßt so gar nicht zu dem Bild, das ich von dir hatte. Ist sie schuld daran, daß du dich so verändert hast?«
»Sie? Wen meinst du?« erkundigte sich St. James, obwohl er sehr wohl wußte, von wem Silvie sprach.
»Na, dieses rothaarige Mädchen mit dem klugen Gesicht, das du mir heute in der Fischerhütte vorgestellt hast«, sagte Silvie auch schon.
St. James überlegte: »Wenn ich mich tatsächlich verändert habe, dann ist sicherlich sie daran schuld«, gab er mit einem kleinen Lächeln zu.
Silvie sah es mit wachsender Verwunderung: War dies der stolze St. James, den sie kannte? Ihr Verlobter, der stundenlang über sich sprechen konnte, ohne daß ihn die Meinung seiner Braut auch nur im geringsten interessierte? Ja, der nicht einmal in Erwägung zu ziehen schien, daß eine Frau überhaupt eine Meinung hatte. Sicher, er war charmant und amüsant, das war er stets gewesen. Und doch…
»Ihr scheint gut zusammenzupassen«, sagte Silvie schließlich.
St. James fuhr aus seinen Gedanken auf: »Wer?« erkundigte er sich verständnislos. »Du meinst Mary Ann und ich? Ich und Mary Ann?«
Welch absurder Gedanke. Mary Ann war nicht still und bescheiden, wie er sich seine Frau vorgestellt hatte. Mary Ann war… Er versuchte, sie sich als seine Frau vorzustellen. Und da lächelte er abermals. Eine wahrlich erfreuliche Vorstellung.
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Mary Ann erschien im Türrahmen. Sie trug wie immer ein Kleid aus ihrer grauen Garderobe, hochgeschlossen und schlicht. Ihre roten Locken waren frisch frisiert und glänzten im Schein des Feuers.
St. James erhob sich sofort und eilte auf sie zu, um sie zu ihrem Platz zu führen.
»Entschuldigt bitte, daß ich euch warten ließ.« Mary Ann nickte Lady Silvie lächelnd zu. »Doch kaum hatte ich mein Zimmer betreten, wollte Kitty wissen, was um alles in der Welt mir widerfahren wäre. Und es dauerte geraume Zeit, bis ich all ihre Fragen beantwortet hatte. Ihr könnt euch denken, wie aufregend meine liebe Freundin die Geschichte mit den Schmugglern und den Zollbeamten gefunden hat. Doch nun bin ich hier, und ich habe einen großen Hunger. Ich hoffe, Mr. Shedwell läßt nicht mehr lange auf sich warten.«
Wie auf Geheiß ging die Tür abermals auf, und der Butler trat ein, ein großes, ausladendes Silbertablett in seinen Händen. Frank folgte mit einer Reihe von Schüsseln, aus denen es verlockend duftete.
Zu dritt setzten sie sich an den großen Eßtisch. Kurze Zeit später hatten die Diener den Salon verlassen, und alle drei machten sich heißhungrig über die angerichteten Speisen her. Die nächsten Minuten vergingen schweigend, und nur das Ticken der Wanduhr unterbrach die einträchtige Stille.
»Ihr wart so ins Reden vertieft, als ich kam. Ich habe euch hoffentlich nicht in der Unterhaltung gestört«, nahm Mary Ann das Gespräch
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