Schneegestöber (German Edition)
Daher ist mein Geld fast zur Gänze aufgebraucht.«
Mary Ann war aufgesprungen. Mit geröteten Wangen zählte sie die Geldscheine, die Kitty ihr reichte: »Nicht viel Geld? Das ist ein Vermögen!« rief sie aus. »Kitty, das ist viel zuviel. Ein einziges Kleid kann doch kein solches Vermögen kosten.«
»Es kann ein noch viel größeres Vermögen kosten«, erklärte Kitty gelassen. »Aber wenn wir unser Ziel erreichen, dann macht sich diese Ausgabe mehr als bezahlt.«
Da wurde sie von Mary Ann auch schon stürmisch umarmt: »Oh, vielen, vielen Dank!« rief diese aus. »Du ahnst gar nicht, wie ich mich freue. Ich habe aber ein schlechtes Gewissen, dein verlockendes Angebot anzunehmen…«
»Ein schlechtes Gewissen?« entgegnete Kitty. »Das ist völlig überflüssig. Der einzige, der hier ein schlechtes Gewissen haben sollte, ist dein verehrter Herr Bruder. Ihm sollte es schlaflose Nächte bereiten, daß er seine Schwester in trostlosen, unmodischen Kreationen herumlaufen läßt. Aber nun wird alles anders. Nun machen wir ihm einen Strich durch die Rechnung. Ehe sich Seine Lordschaft versieht, bist du verheiratet, und damit ist er nicht mehr Herr über dein Vermögen…«
Es klopfte an der Tür. Rasch ließ Mary Ann die Geldscheine hinter ihrem Rücken verschwinden. Heather, das Hausmädchen, streckte ihren Kopf zur Türe herein: »Sie sollen zu Mrs. Clifford kommen, Miss Rivingston«, erklärte sie mit ihrer hohen, piepsenden Stimme.
»Mrs. Clifford sagte, Sie sollen sich beeilen. Sie hat einen Auftrag von großer Dringlichkeit.«
Mary Ann öffnete ihr Retikül, stopfte die Geldscheine hinein und beeilte sich, dem Mädchen auf den Gang hinaus zu folgen.
IV.
Eine gute halbe Stunde später rollte die alte, behäbige Kutsche durch das schmiedeeiserne Tor aus dem Schulhof hinaus. Mary Ann lehnte sich in die abgewetzten schwarzen Lederpolster zurück und lächelte zufrieden. Das hatte ja besser geklappt, als sie zu hoffen gewagt hatte. Von allen Mädchen der Schule hatte Mrs. Clifford gerade sie ausgewählt, den Brief an Kittys Tante zur Post zu bringen. Und deshalb hatte sie ohne zu zögern ihrer Schülerin die Erlaubnis erteilt, bei dieser Gelegenheit auch die Schneiderin in Bath aufzusuchen. Mary Ann hatte ihr erklärt, daß die Säume zweier ihrer Kleider nachgenäht werden müßten. Das war nicht einmal gelogen. Und daß Mary Ann derartige Näharbeiten normalerweise selbst verrichtete, um ihr knappes Taschengeld zu schonen, konnte Mrs. Clifford ja nicht wissen.
»Da fällt mir ein… wenn du schon bei Mrs. Millcock vorbeikommst… warte hier.« Mrs. Clifford eilte aus dem Direktionszimmer auf den Gang hinaus und verschwand in ihrem gegenüberliegenden Schlafgemach. Nach kurzer Zeit kam sie zurück, einen ihrer maisfarbenen Umhänge über dem Arm: »Das gute Stück braucht dringend neue Knöpfe«, erklärte sie. »Ich verlasse mich auf Mrs. Millcocks guten Geschmack. Sie wird sicher die passenden Knöpfe aussuchen. Bitte betone, daß ich keinen Wert auf modischen Aufputz lege, Mary Ann. Am besten, man nimmt Knöpfe aus gutem, gediegenem Hirschhorn. Und bitte die Schneiderin, diese mit doppeltem Faden anzunähen. Ich erwarte, daß ich die neuen Knöpfe nicht so rasch verliere wie die letzten.«
Mary Ann nickte und versprach, die Anweisungen an die Schneiderin weiterzugeben.
»So und nun gehe, mein gutes Kind.« Mrs. Clifford tätschelte mit einem seltenen Anflug von mütterlichem Wohlwollen Mary Anns Wange. »Ich weiß, daß Harris nicht gerne kutschiert, wenn es dunkel ist. Und vergiß nicht, den Brief an Mylady Farnerby aufzugeben. Es ist höchste Zeit, daß Charlotta einen neuen Pferdeknecht bekommt. Susanns Kutscher kommt mit ihrem kapriziösen Reitpferd nicht zurecht. Harris findet fast täglich einen Grund zur Beanstandung. Ichhabe keine Lust, mir ständig seine Klagen anzuhören. Das siehst du doch ein, Mary Ann, nicht wahr?«
Diese nickte, während sie den Umhang der Schulleiterin an sich nahm. Je eher wir wieder einen eigenen Pferdeknecht haben, desto besser, dachte sie bei sich.
»Das habe ich angenommen«, entgegnete die Schulleiterin zufrieden.
»Ich halte dich für eine sehr verständige junge Dame, Mary Ann. Das muß einmal gesagt werden. Auch von den anderen Lehrkräften höre ich so gut wie nie eine Klage über dich. Du bist ein sehr aufmerksames, wohlerzogenes Mädchen. Ich darf nicht vergessen, dies in meinem nächsten Schreiben an deinen ehrenwerten Bruder zu erwähnen.«
Mary Ann
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