Schneegestöber (German Edition)
aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.«
Mary Ann mußte lächeln: Die liebe Kitty. Was war sie für eine gute Freundin. Und was für eine verlockende Vorstellung, sich Mr. Westbourne sprachlos vor Bewunderung vorzustellen.
»Der Stoff ist natürlich nicht billig«, hatte Kitty hinzugefügt, und man hatte ihr angemerkt, daß dieser Umstand keinen Grund zur Beunruhigung für sie darstellte. »Und da du das Kleid bereits in drei Tagen brauchst, wird Mrs. Millcock weitere Näherinnen einstellen müssen, die auch in der Nacht daran arbeiten.«
Dieser Gedanke hätte Mary Ann fast die Vorfreude verdorben.
»Wenn ich daran denke, daß junge Mädchen und Frauen nur deshalb die ganze Nacht aufbleiben müssen, damit ich mein Vergnügen dran habe«, hatte sie nachdenklich eingeworfen.
»Aber die Frauen verdienen doch Geld dabei«, hatte Kitty erwidert.
»Und sie können damit zum Unterhalt ihrer Familien beitragen. Also werden sie froh sein, wenn sie für dich nähen dürfen. Und überdies: Du brauchst dir wirklich kein schlechtes Gewissen zu machen, wenn du dir einmal ein Vergnügen gönnst. Wer, frage ich dich, zerbricht sich denn den Kopf darüber, daß du hier in dieser freudlosen Schule leben mußt?«
Da hatte ihr Mary Ann recht gegeben. Es wurde Zeit, daß sie auch einmal an ihr eigenes Vergnügen dachte.
Warm in ihre Decke gehüllt, genoß sie die Fahrt in die nahe Stadt. Sie war unterwegs, um sich das Kleid ihrer Träume schneidern zu lassen. Und sie würde in Kürze ihren ersten Ball besuchen. Sie würde sich im vornehmen Haus von Mrs. Nestlewood im Arm von Mr. Westbourneim Walzertakt drehen. Welch ein Abenteuer! Ach, wie sehr sie sich nach Abwechslung und Abenteuer sehnte!
Ein lautes Krachen unterbrach jäh ihre Gedanken. Bevor sie recht wußte, wie ihr geschah, bevor sie noch Gelegenheit hatte, sich festzuhalten, kippte die Kutsche zur Seite. Mit voller Wucht prallte sie gegen das linke Fenster und blieb leicht benommen liegen. Das laute Wiehern der Pferde war zu vernehmen, ihr aufgeregtes Stampfen auf dem Lehmboden. Sie rüttelten und zogen an der Kutsche, doch sie rührte sich nicht vom Fleck. Dann war Harris’ Stimme zu hören, er sprach besanftigend auf die Tiere ein. Es war ihm anscheinend gelungen, vom Kutschbock zu steigen, und nun bemühte er sich, die Pferde zu beruhigen. Mary Ann blickte durch das Fenster; ein Glück, daß die Scheibe nicht zerborsten war. Vor dem linken Fenster war nur Gras zu erkennen. Die Halme waren geknickt und niedergedrückt. Ein Blick aus dem rechten Fenster zeigte den grauen, wolkenverhangenen Himmel. In diesem Augenblick wurde der rechte Schlag aufgerissen, und der alte Harris streckte sein zerfurchtes Gesicht ins Wageninnere: »Sind Sie verletzt, Miss Mary Ann?«
Mary Ann fühlte sich noch immer leicht benommen, ihr linker Arm schmerzte. Dennoch hatte sie das Kutschenunglück heil überstanden.
»So ein Glück aber auch, daß wir gerade an dieser Böschung vorbeifuhren, als es passieren mußte«, erklärte der Kutscher. »Geben Sie mir Ihre Hand, Miss Mary Ann. Geben Sie mir Ihre Hand.« Er beugte sich so weit vor, wie er nur konnte, und ergriff ihr Handgelenk. Es war gar nicht so leicht, aus der schräggestellten Kutsche zu klettern. Und dann stand sie also endlich im Freien, das Retikül eng an ihre Brust gedrückt, und fröstelte. Wie kam sie jetzt bloß auf dem schnellsten Weg zur Schneiderin?
Harris hatte andere Sorgen: »Das linke Vorderrad ist angeknackst«, stellte er sachkundig fest, nachdem er die Räder einer eingehenden Prüfung unterzogen hatte. »Kein Wunder bei dem alten Gefährt. Ich hab Mrs. Clifford schon so oft darauf hingewiesen, daß es einmal ein Unglück geben wird. Ich hab sie schon so oft gebeten, eine neue Kutsche anzuschaffen. Aber sie tut’s nicht, und ich kann’s nicht ändern.« Er hinkte zu den Pferden vor, die durch das Umkippen derKutsche keinen Schaden erlitten zu haben schienen. »Ich spann mir mal die Lilly aus und reite in die Stadt hinein. Mal sehen, ob ich einen Schmied auftreibe, der den Schaden da beheben kann.«
»Sie wollen mich hier allein stehenlassen, mitten in dieser verlassenen Gegend?« fuhr Mary Ann erschrocken auf.
»Es tut mir ja auch leid, Miss, aber wir haben keine andere Wahl. Und die Gegend ist gar nicht so verlassen, wie Sie vielleicht meinen. Sehen Sie nur, da vorne sieht man die ersten Häuser der Stadt.«
Mary Ann blickte sich um, und es war ihr gar nicht wohl zumute. Der Kutscher erkannte, wie
Weitere Kostenlose Bücher