Schneegestöber (German Edition)
unbehaglich sich die junge Dame fühlte: »Ich kann Sie doch nicht mitnehmen, Miss Mary Ann. Das sehen Sie doch sicher ein. Wir haben ja nicht einmal einen Sattel für Sie.« Behende, wie man es ihm aufgrund seines Alters nicht zugetraut hätte, schwang er sich auf den Rücken des Kutschpferdes und ergriff die Zügel.
»Bitte beeilen Sie sich, Mr. Harris!« rief Mary Ann ihm nach. »Ich muß heute unbedingt noch zur Schneiderin.«
Der Mann hob grüßend die Hand zur Mütze: »Ich will sehen, was sich machen läßt, Miss«, rief er zurück. Dann ritt er in gemächlichem Tempo die lange Straße hinunter. Am Horizont waren tatsächlich die ersten, aus Sandstein gebauten Häuser zu sehen, die den Stadtrand von Bath anzeigten. Hoffentlich hat er Glück, dachte Mary Ann, und findet bereits in der ersten Siedlung einen Schmied, der das Rad reparieren kann. Sie beschloß, ihre Decke aus dem Wageninneren zu holen. Obwohl es sich um ein derbes, dickes, durch und durch unmodisches Stück handelte. Es war ein außergewöhnlich kalter Tag, und der Mantel allein konnte die Kälte nicht abhalten. Sie legte die Decke um ihre Schultern, zog sie eng am Busen zusammen und begann, neben dem Fahrzeug auf und ab zu gehen. Das zweite Kutschpferd stand regungslos und starrte trübe auf den Lehmboden des Weges. Hoffentlich kam Harris innerhalb der nächsten Stunde zurück. Dann würde sie ihr Pensum noch schaffen. Zuerst zur Schneiderin. Wenn sie sich beeilte, dann würde das Maßnehmen nicht mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen. Ein Glück, daß Kitty bereits den passenden Stoff für sie ausgewählt hatte. Und dann mußte sie nur noch rasch zum Postamt. Um spätestens vier Uhr wollte der Kutscherdie Rückfahrt antreten, um vor Einbruch der Dunkelheit das Schulgebäude wieder zu erreichen. Das mußte sie einfach schaffen. Sie brauchte dieses grüne Traumgebilde von einem Ballkleid. Sie mußte Mr. Westbourne endlich dazu bringen, sie nicht nur als seine Schülerin, sondern als Frau zu sehen. Wenn sie doch schon verheiratet wäre! Dann könnte sie über ihr eigenes Geld verfügen, nach London gehen, Bälle besuchen, Konzerte, Theater. Sie würde tanzen, sich vergnügen, all das nachholen, was ihr durch die Sparsamkeit ihres Bruders bisher verwehrt geblieben war. Der Reverend war der Sohn des Earl of Westmore. Sicher besaßen seine Eltern ein Haus in einem vornehmen Stadtteil Londons. Ob sie ihnen wohl gestatteten, dort zu wohnen? Nur schade, daß Kitty nicht sofort mit ihnen kommen konnte. Aber es war ja bereits Ende November. Kitty würde im Februar achtzehn. Dann würde auch sie nach London kommen, um ihr Debüt in der Hauptstadt zu geben. Während Mary Ann in die dicke Decke gehüllt auf der einsamen schmalen Landstraße auf und ab ging, schwelgte sie in Gedanken in den verlockendsten Phantasien. Sicher würde Bernard sie zu einer Hochzeitsreise einladen. Wohin fuhr man in dieser kalten Jahreszeit? Nach Italien vielleicht? Oder nach Griechenland, um die Tempel und Statuen zu besichtigen, die Bernard auf Abbildungen so sehr bewunderte? Würden sie ihre Abende damit verbringen, daß Bernard mit ihr lateinische Verse übersetzte? Mary Ann mußte kichern. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es war, von Bernard geküßt zu werden. Sie konnte es nicht.
Ein kalter Windstoß fuhr ihr über das Gesicht. Erschrocken fuhr sie aus ihren Gedanken auf und blickte die lange Straße hinunter. Noch keine Spur von Harris. Auch von anderen Kutschen war weit und breit nichts zu sehen. Mary Ann fröstelte. Wenn der Kutscher doch nur endlich zurückkäme. Was war das? Ging dort nicht ein einzelner Mann auf der Straße, der mit großen Schritten immer näher kam? Ja, sie hatte sich nicht getäuscht. Der Mann schlug ein ordentliches Tempo an. Vor wenigen Augenblicken hatte sie ihn noch gar nicht gesehen. Und nun kam er näher und näher. Wer war dieser Mann? Was machte er auf der einsamen Landstraße? Wer sagte denn, daß Straßenräuber immer zu Pferd sein mußten. Was mochte dieserMann für Absichten haben? Erschrocken blickte sie sich um. Wenn sie doch nur eine Pistole hätte oder wenigstens einen Prügel. Wo blieb Harris? Wie kam er dazu, sie so schutzlos, jedem Fremden ausgeliefert, in dieser verlassenen Gegend zurückzulassen? Sie stellte sich in den Schatten der Kutsche und beschloß abzuwarten. Klopfenden Herzens hörte sie, wie energische Schritte auf dem knirschenden Lehmboden immer näher kamen. Schon wurde sein heißer Atem sichtbar, der sich in
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