Schneegestöber (German Edition)
Ann, die ihre Neugierde nicht unterdrücken konnte. Voller Abscheu beobachtete sie, wie der Bauer sich in seinen Zorn hineinsteigerte. Die dicken Wangen seines feisten Gesichts wurden immer röter und röter. Zornadern traten an Hals und Stirn hervor. »Faul ist er, und abgehaun ist er, Miss. Und Millie, die Küchendirne, hat er verführt, der Saukerl. ’tschuldigen schon, Madam, aber wo Sie mich so fragen…«
»Das habe ich nicht«, entgegnete der Bursche kühl und blickte mit undurchdringlicher Miene seinem Dienstherrn entgegen.
Donnerwetter, der Kerl hat Mut, dachte Mary Ann anerkennend.
Den Bauern konnte er damit nur kurz beeindrucken: »Hast du wohl. Millie hat’s mir selbst erzählt. Doch was du mit der Dirne machst, ist mir im Grunde völlig egal!« Er ergriff des Burschen Handgelenk.
»Aber mit mir kommst du zurück. Du wirst schuften, bis dir das Kreuz bricht. Und du wirst mir jeden Cent abarbeiten, den du mir schuldest, das schwör ich dir.«
Mary Anns Blick ruhte nachdenklich auf dem Burschen: Er war groß und kräftig, er hatte klare, offene Gesichtszüge und freundliche Augen. Seine Hände waren an Arbeit gewöhnt, und er konnte mit Pferden umgehen. Sicher würde er auch wissen, wie man ein Fahrzeug kutschiert. Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte sie: »Wieviel schuldet Ihnen der Mann, Mr. Biggar?«
»Acht Pfund und zwanzig Cent«, antwortete der Bauer wie aus der Pistole geschossen. »Er war nämlich schuld, daß mir der Stall abgebrannt ist, müssen Sie wissen. Nur seiner Blödheit ist’s zu verdanken, und da ist’s ja wohl nur recht und billig, daß ich das Geld von ihm zurückverlang, nicht wahr, Miss?«
Mary Ann überlegte: »Und wenn er den Betrag zurückgezahlt hat, dann kann er gehen? Dann geben Sie ihn frei?« wollte sie wissen. Der Bauer nickte und schob sich überlegend den Hut in den Nacken. Was konnte diese seltsame Lady mit der Frage bezwecken? Und überhaupt: Er hatte es eilig. Er mußte auf seinen Hof zurückkehren und nicht unnötig Zeit damit vertrödeln, mit einer unbekannten Miss zuplaudern: »Wenn er gezahlt hat, dann kann er sich zum Teufel scheren«, sagte er unwirsch und wollte sich zum Gehen wenden.
»Einen Moment«, rief ihm Mary Ann energisch nach. Der Bauer verhielt umgehend im Schritt. Er drehte sich um und wollte seinen Augen nicht trauen: Die unbekannte Lady hatte doch wirklich ihr Retikül geöffnet und hielt ihm nun zwei Geldscheine entgegen: »Hier haben Sie zehn Pfund, das ist mehr, als der Bursche Ihnen schuldig ist.« Sie bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. »Na, nehmen Sie es schon. Sie haben einen guten Handel gemacht und können beruhigt nach Hause reiten. Der Bursche bleibt bei mir«, setzte sie hinzu, als der Bauer keine Anstalten machte, dessen Handgelenk loszulassen. »Ich habe ihn abgekauft. Ich denke, das haben Sie verstanden.«
Der Bauer schnaufte unwillig. Mit schnellem Griff schnappte er nach den Geldscheinen, bevor die fremde Lady es sich noch einmal überlegen konnte. Rasch stopfte er das Geld in die ausgebeulten Taschen seiner kurzen Jacke: »Hoffentlich bereuen Sie es nicht«, sagte er zum Abschied nicht gerade aufmunternd. Dann ging er zu seinem alten Klepper und erklomm mit einiger Mühe den Sattel. »Er wird Ihnen Ihre Großzügigkeit schlecht danken«, rief er, während er das Pferd wendete: »Passen Sie gut auf Ihre Sachen auf, Madam. Er stiehlt alles, was nicht niet- und nagelfest ist.« Darauf lachte er schadenfroh auf und machte sich auf den Heimweg.
Mary Ann wandte sich, nun doch etwas unsicher geworden, an den Burschen, der noch immer schweigend neben dem Kutschbock stand.
»Werden Sie das tun?« fragte sie und blickte zu ihm auf. Was sie sah, schien ihr vertrauenerweckend zu sein. Obwohl man vom Gesicht des jungen Mannes nicht viel erkennen konnte. Dichte Bartstoppeln bedeckten Kinn und Wangen. Die blonden Haare hingen ihm bis zur Schulter, sie waren fettig und verfilzt. Nun trat ein Lächeln auf seine Lippen, die durchdringenden blauen Augen blieben jedoch ernst.
»Ich weiß, ich müßte jetzt sagen, Sie hätten mich dem alten Biggar nicht abkaufen dürfen«, antwortete er zu ihrem Erstaunen. Seine Aussprache verriet, daß er aus der Gegend von York stammen mußte. Sein Dialekt war unverkennbar. »Zehn Pfund, das ist einganzer Batzen Geld. Sicherlich viel mehr, als ihm zusteht, dem Halsabschneider. Und dennoch: Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, daß Sie das für mich getan haben. Sie werden’s nicht
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