Schneegestöber (German Edition)
schwerfällige Gefährt zu. Der Stallknecht war längst vergessen.
Mrs. Nestlewoods große, üppige Gestalt überragte gut und gerne die Hälfte der anwesenden Herren. Das füllige Haar war kupferrot gefärbt und hatte einen deutlichen Stich ins Grünliche. Sie hatte es zu einem dicken Knoten am Oberkopf aufgetürmt und zu allem Überfluß noch mit einer ganzen Anzahl von Pfauenfedern geschmückt. Die Robe, die sie trug, war einfach und konnte nicht den Anspruch erheben, besonders modisch zu sein. Dennoch mußte sie erst kürzlich für die Gastgeberin angefertigt worden sein, denn Kitty erkannte auf den ersten Blick den golddurchwirkten grünen Stoff wieder, den sie ursprünglich Mary Anns Abendkleid zugedacht hatte. Sie warf ihrerFreundin einen kritischen Seitenblick zu. Wie Mary Ann dastand, die Wangen vor Aufregung leicht gerötet, die dichten Locken auf die Schultern rieselnd, konnte sie den Geschmack von Mrs. Millcock nur anerkennen. Mary Ann hätte in einer auffallenden grünen Robe nie so hübsch ausgesehen wie in ihrem stilvollen, mitternachtsblauen Abendkleid. In diesem Augenblick bemerkte Mrs. Nestlewood ihre jungen Gäste, und ein triumphierendes Leuchten trat in ihre tiefliegenden Augen. Der schmale Mund unter der auffallenden Hakennase verzog sich zu einem strahlenden Lächeln. »Da bist du ja, Gharlotta, mein Engel!« Ihre Stimme war ungewöhnlich rauh und dunkel. »Wie freue ich mich, dich zu sehen.« Sie reichte Kitty die Hand, die diese ergriff. Sittsam versank Kitty in einen angemessenen Knicks. »Es war sehr freundlich von Ihnen, uns einzuladen, Madam.«
»Du siehst wunderschön aus, Charlotta, das muß man wirklich sagen. Und erst dieses Abendkleid. Ich bin sicher, es hat ein Vermögen gekostet. Im düsteren Licht des Schulhauses kommt gar nicht richtig zur Geltung, was für eine hübsche junge Dame du bist.«
Kitty wünschte sich, Mrs. Nestlewood würde nicht so laut sprechen. Die Umstehenden hatten bereits ihre Gespräche unterbrochen und sich ihnen neugierig zugewandt. »Arthur kann es gar nicht erwarten, seine Cousine kennenzulernen«, fuhr Mrs. Nestlewood fort. Sie wandte sich um und rief: »Arthur! Arthur!« in alle Ecken des Raumes. Daraufhin löste sich ein junger Mann von einer Gruppe Landadeliger, die in einer Ecke im gegenüberliegenden Teil des Saales in ein Gespräch vertieft gewesen waren, und bahnte sich mit schnellen Schritten seinen Weg durch die anwesenden Gäste. Der Gentleman war großgewachsen und stämmig und wies auch sonst deutliche Ähnlichkeit mit seiner Mama auf. Wenn auch die Augen nicht tiefliegend waren, sondern eher aus den Höhlen zu quellen drohten, so hatten sie doch dieselbe blaßblaue Farbe. Die Hakennase, die dem Gesicht etwas Raubvogelähnliches gab, hatte sich von der Mutter auf den Sohn vererbt, ebenso die schmalen Lippen. Das Haar über der auffallend hohen Stirn war streng gescheitelt. Mrs. Nestlewood streckte ihrem Sohn beide Arme entgegen: »Ah, da bist du ja, Arthur, mein Teuerster. Ich hatte dir doch versprachen,dich umgehend zu verständigen, wenn unsere liebe Charlotta eintrifft. Nun sieh, wen wir hier haben. Ist sie nicht reizend?«
Mr. Arthur Nestlewood verbeugte sich vor Kitty und hob galant ihre Rechte zu seinen Lippen. »Du untertreibst, Mama. Cousine Charlotta ist eine wahre Schönheit.« Er lächelte, und seine Lippen entblößten eine Reihe von kleinen, weit auseinanderstehenden Zähnen.
»Die Kapelle wird in Kürze beginnen, die Eröffnungsquadrille zu spielen. Würden Sie mir die Ehre erweisen, Cousine, mir die Hand zu diesem Tanz zu reichen?« Mr. Nestlewood bot ihr seinen Arm.
Die verschiedensten Gedanken fuhren Kitty duch den Kopf. Mrs. Nestlewood hatte sie keinesfalls nur deswegen eingeladen, um ihr einen amüsanten Abend abseits des tristen Schulalltags zu gönnen. Es war offensichtlich, daß ihr eine Verbindung zwischen ihr und ihrem einzigen Sohn vorschwebte. War es nicht ein kluger Schachzug, sich die Hand der Erbin zu sichern, bevor diese zu ihrer ersten Saison in London aufbrach, wo sie bei weitem interessantere Männer treffen würde als ihren Sohn? Nun, sie würde den beiden diese Freude bestimmt nicht machen. Mr. Nestlewood entsprach keineswegs ihren Vorstellungen von einem Traummann. Dieser hatte lange, glänzende braune Locken und durchdringende graue Augen. Verstohlen blickte sie sich um. Sie konnte ihn in der Schar rotbäckiger Landadeliger, die interessiert ihre neugierigen Augen ihr zugewandt hatten, nirgends
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