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Schneegestöber (German Edition)

Schneegestöber (German Edition)

Titel: Schneegestöber (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophia Farago
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konnte, so waren die Abendunterhaltungen anstrengend und dauerten gewöhnlich bis in die frühen Morgenstunden. Viele der jungen Herren verließen ihre Häuser erst gegen fünf Uhr nachmittags, wenn es mondän war, sich in der Kutsche oder zu Pferd im Hyde Park sehen zu lassen. Doch vermutlich waren zu dieser Jahreszeit überhaupt nur wenige Adelige in London. Wenn nicht wichtige Gründe sie in der Hauptstadt festhielten, so zogen sich die meisten von ihnen auf ihre Landsitze zurück, oder sie besuchten Freunde zu Jagdgesellschaften. Al hielt den Wagen am Straßenrand an, und kurz darauf erschien sein vermummtes Gesicht vor einem der Kutschenfenster: »Direkt zum Earl of St. James?« wollte er wissen.
    »Ja, nein…«, stammelte Kitty, die plötzlich jeder Mut verlassen hatte. Vielleicht war es besser, den alten Herrn nicht zu überrumpeln. War es nicht klüger, sich für ein, zwei Nächte ein Hotelzimmer zu nehmen? Dem Onkel zuerst eine Nachricht zukommen zu lassen, bevor man ihn aufsuchte? Außerdem fühlte sie sich nicht wohl. Das deftige Essen am Vorabend war ihr nicht gut bekommen. Sie hatte in der Nacht kaum ein Auge zugemacht. Und jetzt noch das Rütteln der Kutsche. Nein, sie war ganz gewiß nicht in der Lage, ihrem gestrengen Verwandten gegenüberzutreten. »Kennen Sie ein preiswertes Hotel?« fragte sie ihren Diener.
    »Aber warum?« erkundigte sich Mary Ann erstaunt. »Wir wollten doch umgehend nach unserer Ankunft zu Seiner Lordschaft fahren. Ich wäre beruhigt, wenn wir das Gespräch endlich hinter uns gebracht hätten. Außerdem haben wir doch kaum Geld…«
    »Mir ist übel«, war Kittys einzige Antwort. Warum fühlte sie sich denn bloß plötzlich so schwach? Aufstöhnend, den Tränen nahe, lehnte sie sich in die Polster zurück. Mary Ann blickte hilflos zu Al. Dieser stellte keine weiteren Fragen, schwang sich auf den Kutschbock, und nach nicht allzulanger Zeit hielt er das Fahrzeug vor einem Hotel an. Es war ein schmales, dreistöckiges Gebäude. Flemings Hotel stand mit geschwungenen Lettern auf dem Schild zu lesen. Diesmal begingen sie nicht denselben Fehler wie im Gasthaus »Zur blauen Ente«. Al verstaute die unförmige Mütze in seinem Gepäck und trat aufrecht und entschlossen in den Vorraum. Er war durch und durchder Diener eines vornehmen Haushalts, der für seine junge Herrin ein Zimmer suchte. Man hatte sich darauf geeinigt, daß Mary Ann weiter die Rolle der Kammerfrau spielen sollte. Und so betrat Kitty, noch immer sichtlich blaß, am Arm ihrer »Zofe« das Haus. Al befahl dem Hoteldiener, sich um die Kutsche zu kümmern, und trug selbst das spärliche Gepäck in das obere Stockwerk. Nun würden sie also drei getrennte Zimmer brauchen: Eines für Miss Stapenhill, ein zweites für die Kammerfrau, ein drittes für den Diener. Bereits für die erste Nacht würde Kittys gesamtes restliches Geld aufgebraucht werden. Doch hatten sie mit dem vornehm tuenden Hotelbesitzer keinerlei Probleme.
    Am nächsten Morgen war Kitty noch immer elend zumute. Als sie aufzustehen versuchte, stand sie auf so wackeligen Beinen, daß Mary Ann sie umgehend ins Bett zurückschickte. Sie ließ heißen Tee und trockenen Kuchen bringen. Nach diesem kargen Frühstück fühlte sich ihre Freundin stark genug, einen kurzen Brief an ihren Vormund zu schreiben. Mary Ann brachte Papier und Feder und legte Kenneth’ Adelskalender als Unterlage auf die Bettdecke.
    »Was, diesen Wälzer schleppst du mit dir herumi« erkundigte sich Kitty erstaunt. »Was für eine seltsame Idee. Doch nun hilf mir, Mary Ann. Was würdest du dem alten Earl schreiben?«
    Die nächste Stunde verging damit, daß sie ihre Köpfe zusammensteckten und überlegten. Sie verwarfen den ersten Entwurf, zerrissen den nächsten. So ging es einige Zeit dahin, bis sie sich schließlich auf ein kurzes Schreiben einigten. »Verehrter Vormund«, brachte Kitty mit zittriger Schrift zu Papier. »Darf ich Sie davon in Kenntnis setzen, daß ich nach London gereist bin. Ich brauche dringend Ihren Rat und Ihre Hilfe. Bitte nennen Sie mir den Tag und die Uhrzeit, wann Ihnen mein Besuch angenehm ist. Mein Diener wartet auf Antwort. Hochachtungsvoll, Ihr Mündel Charlotta Stapenhill.«
    »Meinst du, daß wir die richtigen Worte gefunden haben?« erkundigte sich Kitty sorgenvoll bei ihrer Freundin, während sie Sand auf das Papier streute, um die Tinte zu trocknen. »Bringst du den Brief bitte zu Al? Er soll umgehend in die Brook Street fahren und das Schreiben bei meinem

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