Schneegestöber (German Edition)
hätte sie denn tun sollen?« erklärte sie, und ein bitterer Unterton schwang in ihrer Stimme mit. »Sie war von ihrem Vater abhängig. Keiner kann ihr einen Vorwurf daraus machen, daß sie sich seinen Wünschen fügte.« Sie selbst wohl am wenigsten. Wie gut konnte sie sich in Silvie Westbournes Lage versetzen. Und dennoch, Silvie war mutig genug, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. »Tatsache ist, daß Miss Westbourne mutig genug war, eine Ohnmacht vorzutäuschen, um Sie nicht heiraten zu müssen«, erklärte sie schließlich, und ihre Stimme klang voll Bewunderung. Es lag in der Natur der Sache, daß St. James ihre Bewunderung nicht teilte. »Vortäuschte?« wiederholte er. »Es war keinesfalls so,daß Miss Silvie die Ohnmacht vortäuschte. Sie ist so eine zarte kleine Person…«
Mary Ann wollte in diesem Punkt mit Seiner Lordschaft nicht streiten: »Na, zumindest kam ihr die Ohnmacht sehr gelegen, wie man sieht«, erklärte sie. »Sie gab ihr die Gelegenheit zu fliehen, ehe es zu spät war. Also bleibt uns nur die Frage: Wohin flieht ein junges Mädchen, wenn es in die Enge getrieben wurde…«
»Zu ihrer Mama, sollte man meinen«, warf Seine Lordschaft rasch ein, ihre letzten Worte geflissentlich überhörend. Mary Ann schüttelte den Kopf: »Nicht, wenn sie, wie sie, nicht im Elternhaus aufgewachsen ist.« Seine Lordschaft beugte sich gespannt in seinem Sessel vor: »Nicht in ihrem Elternhaus aufgewachsen? Meinen Sie, das trifft auf Miss Silvie zu?«
Mary Ann nickte: »Miss Silvie und ihr Bruder Bernard, der ihr im Alter am nächsten steht, wuchsen bei den Großeltern mütterlicherseits, Lord und Lady Bakerfield auf. Lady Westmore war stets von angegriffener Gesundheit, und die sechs Geburten haben sie zusätzlich geschwächt. Also beschloß man, die beiden jüngsten Kinder den Großeltern zu überlassen. Sie lebten zurückgezogen in Bakerfield-upon-Cliffs in Kent. Direkt an der See, nahe Rye. Lady Bakerfield, Lady Silvies Großmutter, starb vor einigen Jahren. Ich denke, das werden nun so vier, fünf Jahre her sein. Und dennoch kehrte Lady Silvie erst letztes Jahr nach London zurück. Es war Zeit, daß sie in die Gesellschaft eingeführt wurde.«
Seine Lordschaft hatte ihr aufmerksam zugehört: »Bernard und Silvie wurden von den Großeltern aufgezogen? Das ist ja allerhand. Und es erklärt, warum sie sich gerade dem sittenstrengen Pfarrer anvertraut hat«, setzte er ganz in Gedanken hinzu. Die Miene, mit der er sein Gegenüber betrachtete, war nun bedeutend freundlicher als zu Beginn des Gesprächs: »Ich muß sagen, Miss, Sie setzen mich in Erstaunen. Sie haben sich auf diesen Auftrag bewundernswert gut vorbereitet. Wir brechen gleich morgen früh auf. Es ist nicht allzuweit nach Rye. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Was zum Teufel…«
Die Türe war aufgegangen, und eine ihm unbekannte Schönheit mit auffallend schwarzen Haaren stand im Türrahmen. Die dunklen Augen schienen aus ihrem blassen Gesicht zu fallen, als sie ihn unverwandtanstarrte. Dann stieß sie einen erstickten Schrei aus und sackte in sich zusammen.
Mary Ann, die mit dem Rücken zur Türe gesessen war, hörte den Schrei und fuhr herum. Erschrocken sprang sie von ihrem Sessel auf: »Kitty!« rief sie entsetzt und eilte zu der leblosen Gestalt, die regungslos am Fußboden lag. Sie beugte sich zu ihr hinunter und rüttelte energisch an ihren Schultern: »Kitty, Kitty! Um Himmels willen, so wach doch auf.« Doch ohne Erfolg. Kittys Haupt rollte hin und her wie der Kopf einer Gliederpuppe. Die Hand, die Mary Ahn anhob, fiel ungehindert zu Boden. Da zögerte sie nicht länger. Mrs. Clifford hatte eine eigene Methode, ohnmächtige Schülerinnen wieder ins Leben zu befördern: Meistens zeigten zwei energische Ohrfeigen rechts und links auf die Wangen den gewünschten Erfolg. St. James, der neugierig näher gekommen war und sich fragte, wer das hübsche Mädchen auf seinem Parkettboden wohl sein mochte, zuckte erschrocken zusammen, als er das laute Klatschen vernahm. Entgeistert starrte er Mary Ann an. »Wer immer diese Dame auch ist, bitte schaffen Sie sie aus meinem Haus«, näselte er statt dessen hochmütig. »Ich habe entschieden allen Grund, gegen ohnmächtige Damen voreingenommen zu sein.«
Mary Ann wollte ihn eben bitten, ihr zu helfen, die Freundin zum Wagen zu tragen, doch St. James hatte bereits energisch die Klingelschnur betätigt. »Ich nehme an, Sie wissen, wer diese Schönheit ist«, sagte er wieder an Mary Ann
Weitere Kostenlose Bücher