Schneegestöber (German Edition)
unsere Pläne ändern?«
»Das ist eine lange Geschichte, Kitty, die ich dir jetzt gleich erzählen werde. Nur eines solltest du wissen. Vielleicht möchtest du dann gar nicht mehr bei St. James einziehen. Dein Vormund hat eine Braut.«
»Eine Braut?« flüsterte Kitty und konnte ihren Ohren nicht trauen.
Die Welt war wirklich ungerecht. Zuerst mußte sie Jahre in dieser unerfreulichen Schule verbringen, dann war sie zu einer überstürzten Flucht gezwungen, nun hauste sie einem heruntergekommenen Hotel, ihr Geld ging zu Ende, es war ihr unsagbar übel, und jetzt hatte ihr Angebeteter auch noch eine Braut. Sie merkte gar nicht, daß ihr die Tränen in die Augen traten: »Bist du dir da sicher? Hat er dir erzählt, daß er eine Braut hat?«
Al rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Es betrübte ihn, seine Herrin so traurig zu sehen. Sie war doch sonst so ein fröhliches Wesen, eher bestimmend als verzagt. Umständlich kramte er ein sauberes Taschentuch aus seiner Westentasche und reichte es ihr. Sie ergriff das Tuch dankbar und schneuzte sich ausgiebig.
»Seit wann ist St. James verlobte« wollte er wissen.
»Seit kurzem, ich weiß es nicht genau«, erklärte Mary Ann. »Das ist die Geschichte, die ich euch erzählen will.« Sie nahm auf Kittys Bettkante Platz und tätschelte ihrer Freundin liebevoll die Hand: »Bitte hör auf zu weinen. Vielleicht wird ja doch alles wieder gut. Der Earl hat ja schließlich noch nicht geheiratet, auch wenn er knapp davorstand, es zu tun. Und er hat gesagt, daß du eine Schönheit bist, Kitty«, setzte sie hinzu, um Kitty aufzuheitern. Diese war sofort von ihren Sorgen abgelenkt: »Hat er das?« fragte sie, und ihre Augen strahlten.
»Eine seltsame Aussage über sein eigenes Mündel, das muß ich sagen«, urteilte der Diener streng.
»Aber er weiß doch nicht, daß Kitty sein Mündel ist«, verteidigte Mary Ann Seine Lordschaft.
Nun hatte sie beide in Erstaunen versetzt. »Also paßt auf«, begann sie, begierig darauf, den aufmerksamen Zuhörern die Begebenheiten zu erzählen, die sich an diesem Nachmittag in der Bibliothek des Earlsof St. James zugetragen hatten. Sie bemühte sich, sich an jedes Wort zu erinnern, um ihrer Freundin und dem Burschen zu ermöglichen, ihre Gedanken nachzuvollziehen. Kittys Tränen waren längst versiegt. Mit großen Augen folgte sie den Ausführungen ihrer Freundin: »Das ist ja eine tolle Geschichte!« rief sie aus, als Mary Ann geendet hatte. »Was für ein Abenteuer! Wie klug von dir, daß du dem Earl nicht gesagt hast, wer wir wirklich sind. Nun werden wir alsomit ihm verreisen. Das ist ja noch viel besser, als bei ihm einzuziehen. Reisen ist die allerbeste Gelegenheit, einander besser kennenzulernen. Ich muß sagen, Mary Ann, dein Plan ist großartig.«
»Wahrhaft großartig!« wiederholte der Stallbursche trocken. »Und undurchführbar, würd ich ihn nennen, wenn Sie mich fragen.«
Kitty hatte ihre alte Energie bereits wiedergewonnen: »Aber wir denken gar nicht daran, Sie zu fragen«, entgegnete sie nicht gerade freundlich.
»Glauben Sie wirklich?« erkundigte sich Mary Ann verunsichert.
»Aber klar. Wie sollen denn zwei Mädchen mit einem Junggesellen durch die Gegend kutschieren können. Und dann glaub ich nicht an die Verlobung. Was soll das für eine Geschichte sein, daß die Braut am Altar durchbrennt. Keine anständige Lady tut so etwas.«
Immer wenn Al aufgeregt war, sprach er im breitesten Yorkshire-Dialekt. »Und wenn sie’s getan hat, noch schlimmer. Denn das zeigt, was für ein Kerl dieser St. James sein muß. Der Mann ist wahrscheinlich ein Unhold oder so etwas Ähnliches. Keinesfalls wird Ihr Vormund, ich meine Lady Farnerby, diesem Plan zustimmen.«
»Wir denken gar nicht daran, meiner Tante auch nur ein Wort von unserem Plan zu erzählen«, begehrte Kitty auf.
»Damit sie die Bow-Street-Leute hinter Ihnen herhetzt, Missy?« erwiderte Al ebenso lautstark. »So nehmen Sie doch Vernunft an. Mrs. Clifford hat Ihr Verschwinden doch längst in die Albermarie Street gemeldet. Ihre Tante wird außer sich sein vor Zorn und auch vor Besorgnis. Sie müssen sich bei ihr melden, bevor sie die Polizisten auf Ihre Spur setzt.«
Widerwillig erwog Kitty diesen Gedanken. »Ich glaube, er hat recht«, gab sie schließlich zu.
Mary Ann kramte in ihrem’Retikül: »Ich hab schon daran gedacht. Natürlich würde Lady Farnerby sich so verhalten, wie Sie es vorausgesehen haben, Al. Doch glauben Sie mir, ich habe mir etwas
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