Schneegestöber (German Edition)
hatte diesen Blickwechsel aufgefangen und hätte am liebstenlaut aufgeschrien. Wie kam dieser arrogante Mensch dazu, so schamlos mit Kitty zu flirten? Und wie kam dieses kleine Biest dazu, sich auf dieses gewagte Spiel einzulassen? Mit ihrem eigenen Vormund! Da hieß es einzugreifen, bevor es zu spät war. Sie mußte etwas Passendes sagen. Etwas, das die beiden veranlaßte, ihre Aufmerksamkeit auf profanere Dinge zu lenken. Was sagt eine vornehme Lady nur in dieser Situation? »Ist dir eigentlich noch schlecht, Kitty?« war das erste, das ihr einfiel. Der Earl, der eben dabei gewesen war, die Gabel zum Mund zu führen, hielt fassungslos inne. Seine Augen weiteten sich, als er sich der unscheinbaren jungen Frau zuwandte, die an seiner Rechten saß. »Wie können Sie nur!« näselte er in seinem arrogantesten Tonfall. »Wie Sie sehen, bin ich beim Essen. Sparen Sie sich Ihre unappetitlichen Bemerkungen bis nach Tisch auf. Oder am besten, Sie unterlassen sie überhaupt.«
Mary Ann war zutiefst peinlich, daß ihr diese unpassende Frage entschlüpft war. Und doch: Wie kam dieser Mann dazu, sie wie eine seiner Bediensteten zu behandeln? »Gerne«, sagte sie daher, bemüht, ihrer Stimme einen freundlichen Tonfall zu geben. »Wenn Sie Ihren unappetitlichen Blick ebensolange unterlassen.« Sie nahm den Krug in ihre Rechte und hielt ihn höflich Seiner Lordschaft entgegen: »Noch etwas Wein?«
»Annie!« rief Kitty entsetzt. Was war bloß in ihre Freundin gefahren? Wie kam sie dazu, die romantische Stimmung mutwillig zu zerstören? Sie hatte es noch nie erlebt, daß sich Mary Ann derart danebenbenahm.
»Sie vergessen sich, Miss!« sagte der Earl streng.
Mary Ann entschloß sich, nichts darauf zu antworten. Sie hatte nicht die geringste Lust, diesen vulgären Streit fortzuführen. Es war schlimm genug, daß sie ihn überhaupt vom Zaun gebrochen hatte. Vermutlich war die weite Reise schuld. Und das trübe Wetter. Die trostlose Stimmung, die sich ringsherum breitmachte, schien sich auch auf ihr Gemüt gelegt zu haben. Morgen würden sie Rye erreichen. Hoffentlich fanden sie Miss Westbourne tatsächlich im Hause ihres Großvaters vor. Dann war ihre Mission erledigt. Die vierhundert Pfund würden eine Zeitlang reichen. Zumindest so lange, bis sie und Kitty in Ruhe entschieden hatten, was sie weiter unternehmenwollten. Der Earl, der eine stürmische Widerrede erwartet hatte, blickte Mary Ann von der Seite her verstohlen an. Was für eine seltsame Frau. Gerade noch hatte sie sich wie eine Furie auf ihn gestürzt. Jetzt saß sie still und würdevoll an seiner Seite und löffelte das Pflaumenmus, als sei nichts geschehen. Wie sie wohl in bunten Kleidern aussah? Ohne die hochgeschlossenen schmucklosen Kragen, die ihrem Aussehen etwas Frommes, ja Quäkerhaftes verliehen. Natürlich müßte sie sich auch von den großen Hauben trennen, die ihre Locken streng aus der Stirn hielten. Rote Locken. Eine Frau mit üppigen Formen und roten Locken. Er hielt sich lieber an die zierlichen mit dunklen Haaren. Da wußte er, woran er war. Rothaarige waren zu unberechenbar. »Warum tragen Sie diese Kleider, Miss Mary Ann? Sind Sie in Trauer?« hörte er sich zu seinem eigenen Erstaunen fragen.
Mary Ann blickte überrascht auf. Gerade noch hatte sie Seine Lordschaft zurechtgewiesen, ja, nicht zu Unrecht gezürnt. Und nun begann er Konversation zu führen in seinem gewohnt gelangweilten Tonfall. Sie kannte nicht viele Männer. Aber die, die sie kannte, ihr Bruder John oder auch Bernard Westbourne, waren nachtragend und stur. Nichts konnte ihren Stolz mehr verletzen als die Widerrede einer Frau. Sie hatte damit gerechnet, sich den Zorn Seiner Lordschaft für die nächsten Tage zugezogen zu haben. Daher freute sie sich, daß sie sich geirrt hatte. »Aber nein, Sir«, erwiderte sie und lächelte betont freundlich. »Die grauen Kleider entsprechen dem Wunsch meines Bruders. Er meint, sie seien praktisch und für jede Gelegenheit richtig. Damit reduzieren sich die Kosten meiner Garderobe auf ein für ihn akzeptables Maß.«
Sie hat grüne Augen und perlenweiße Zähne, dachte er. »Ein sparsamer Mann, Ihr Herr Bruder«, sagte er laut.
»Ein Geizhals«, verbesserte ihn Kitty bestimmt. Der Wirt kam herein, gefolgt von einem Diener, der die abgegessenen Teller und Platten auf ein derbes Tablett lud.
»Darf’s ein Gläschen Portwein sein, Mylord? Hab einen der feinsten, die Sie je gekostet haben, unten in meinem Keller. Soll ich eine Flasche
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